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Hintergrund: Von Katastrophe zu Katastrophe: Italiens schlechte Erdbeben-Politik

Hintergrund

Von Katastrophe zu Katastrophe: Italiens schlechte Erdbeben-Politik

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    Rettungskräfte suchen im italienischen Amatrice in den Trümmern nach Überlebenden. Ein Erdbeben der Stärke 6,2 hat Dutzende Opfer gefordert.
    Rettungskräfte suchen im italienischen Amatrice in den Trümmern nach Überlebenden. Ein Erdbeben der Stärke 6,2 hat Dutzende Opfer gefordert. Foto: Massimo Percossi (dpa)

    Ein verstaubtes Fotoalbum, eine Geldbörse, ein Kinderfahrrad – das ist alles, was am Tag nach dem Erdbeben vor dem zerstörten Haus in Amatrice an die Familie erinnert. Die ganze Nacht über haben Feuerwehrleute versucht, Lebende in den Trümmern zu finden – vergebens. Den Polizisten, der hier lebte, seine beiden Töchter und vier weitere Menschen können sie nur noch tot bergen. Die Frau überlebt wie durch ein Wunder. Sie wird durch das verheerende

    Alfredino liegt unter den Trümmern seines Elternhauses in Amatrice begraben. Stundenlang ruft er aus seinem steinernen Gefängnis um Hilfe. Stundenlang versuchen die Retter, den Elfjährigen lebend zu bergen. Doch die Rufe von Alfredino werden leiser. Bis sie schließlich ganz verstummen. Als die Retter den Buben endlich ausgegraben haben, ist er tot.

    Ähnlich herzzerreißend ist die Geschichte von den Zwillingsbrüdern Simone und Andrea aus Amatrice: Simone wird lebend aus den Trümmern geholt, doch seine Verletzungen sind zu schwer. Er stirbt – ebenso wie sein Bruder, der von den schweren Steinbrocken erschlagen worden ist. In Accumoli wird eine ganze Familie ausgelöscht. Die Mutter, der Vater, ein Grundschulkind und das Baby. Sie alle schlafen in einem Zimmer, als das Dach über ihnen zusammenbricht.

    Mindestens 250 Menschen sterben beim Erdbeben in Italien

    Doch am Tag nach dem großen Erdbeben in Mittelitalien gibt es immer wieder auch Hoffnung. Die schönen Geschichten, die Mut machen. Die Geschichte von dem 15-jährigen Mädchen zum Beispiel, das nach 15 Stunden noch lebend aus einem Trümmerhaufen gerettet wird. Oder die von Elisabetta, die nur deshalb überlebt, weil sie mutig ist. Als die Erde bebt, springt das Kind in Pescara aus dem Fenster im ersten Stock. Unten steht ihr Vater und fängt es auf. In Arquata del Tronto rettet eine Großmutter ihren beiden Enkeln das Leben: Als die Welt über ihnen zusammenbricht, verkriecht sie sich mit Leone und Samuele unter dem Bett.

    Ein schweres Erdbeben hat in Mittelitalien mehrere Menschen in den Tod gerissen und schwere Schäden angerichtet.
    Ein schweres Erdbeben hat in Mittelitalien mehrere Menschen in den Tod gerissen und schwere Schäden angerichtet. Foto: Dpa-infografik Gmbh

    Doch die Schicksalsgeschichten, die ein gutes Ende nehmen, werden mit jeder Stunde weniger. Das Entsetzen hat sich wie Blei über die ganze Region gelegt. Die Menschen in Amatrice blicken mit leeren Augen auf die Reste ihrer Stadt. In der Tiefgarage eines leer stehenden Hochhauses werden die Leichen hinter einer Plastikplane gesammelt. Menschen stehen davor und fragen mit bangen Augen, Polizisten blättern in Listen. „Am Mittwoch um 3.36 Uhr wurde Italiens Herz zerrissen“, schreibt die Zeitung Il Messagero.

    Mindestens 250 Menschen sind tot, mindestens 365 Menschen wurden verletzt. Und es werden sicherlich noch mehr Opfer werden, befürchten die Experten. Das Erdbeben in der Region Umbrien, Latium, Abruzzen und den Marken könnte nach Einschätzung des Zivilschutzes mehr Menschenleben fordern als die Katastrophe 2009 in L’Aquila, sagte Behördenchef Fabrizio Curcio. Dort sind 309 Menschen getötet worden.

    Unter den Opfern sind viele Kinder. Denn viele Eltern schicken ihren Nachwuchs in den Sommerferien zu „nonno e nonna“ – zu Opa und Oma. Die wohnen oft noch in den kleinen Orten, während die Eltern längst weggezogen sind und in den Städten arbeiten. Im August erholen sich aber auch oft ganze Familien in ihren Heimatorten bei den Verwandten vom Großstadtstress.

    Der Bürgermeister des Dörfchens Accumoli, Stefano Petrucci, macht den Überlebenden Mut. „Jetzt gibt es einen Moment der Verzweiflung, aber wir glauben an uns“, sagt er. „Wir sind hartnäckige Bergbewohner und wir werden das schaffen.“

    Experten kritisieren den Mangel an Erdbeben-Prävention in Italien

    Der italienische Regierungspräsident Matteo Renzi gibt sich am Abend der Katastrophe ebenso staatsmännisch wie mitfühlend. „Jetzt müssen die Tränen trocknen“, sagt der italienische Ministerpräsident nach seinem Besuch im Erdbebengebiet, „dann geht es an den Wiederaufbau.“ Ein erstes konkretes Signal folgt am Donnerstagabend: Die Regierung ruft den Notstand aus. Zugleich gibt der Ministerrat bei einer Krisensitzung die ersten 50 Millionen Euro für die Unterstützung der Erdbebenopfer frei.

    Beim Thema "schnelle und unbürokratische" finanzielle Hilfe ist Italien geübt. Seit dem Jahr 1968 wurden insgesamt 180 Milliarden Euro für den Wiederaufbau nach Erdbeben investiert, hat der italienische Verband der Bauunternehmer errechnet. 13,7 Milliarden Euro wurden alleine für die Rekonstruktion nach dem Erdbeben 2009 in den Abruzzen bereitgestellt.

    Alle paar Jahre wird das Land von einem schweren Erdbeben heimgesucht, zuletzt 2012 in der Emilia Romagna. Immer wieder fallen hunderte Menschen in den vergangenen Jahrzehnten den Naturkatastrophen zum Opfer. Der Wiederaufbau ist zweifellos notwendig, aber Geologen, Seismologen und Angehörige des italienischen Zivilschutzes beklagen vor allem den Mangel an Erdbeben-Prävention in Italien. „Immer unvorbereitet“ titelt die Mailänder Zeitung Libero am Donnerstag auf der ersten Seite. „In Italien haben wir trotz allem keine Präventions-Kultur“, sagt Francesco Peduto, Vorsitzender des italienischen Geologen-Rates.

    24 Millionen der knapp 60 Millionen Italiener leben laut Peduto in Gegenden mit erhöhtem Erdbeben-Risiko, die betroffenen Gegenden reichen vom Friaul über den Apennin bis nach Kalabrien und Sizilien. „Wir geben uns damit zufrieden, den Notstand zu verwalten“, kritisiert der Erdbebenforscher Massimo Cocco des italienischen Instituts für Geophysik und Vulkanologie (Ingv).

    Enzo Boschi, Seismologe und ehemaliger Präsident des Ingv, behauptet: „In Italien wird nur nach Erdbeben verantwortungsvoll gebaut.“ So zum Beispiel in der umbrischen Stadt Norcia, die bereits 1979 und 1997 von Erdbeben betroffen war. Nach entsprechenden Baumaßnahmen gibt es dort beim jetzigen Beben weder Tote noch Verletzte und kaum Schäden, obwohl das Epizentrum in unmittelbarer Nähe lag.

    Experten klagen auch über die mangelnde Sicherung der Gebäude gegen Erdbeben

    Unisono fordern die Experten nun einen mehrfachen Wandel. Zum einen bedürfe es einer „neuen Kultur der Prävention“. Die oft ahnungslose Bevölkerung in den entsprechenden Gebieten müsse für die Risiken sensibilisiert werden und eine Anleitung für richtiges Verhalten im Fall von Erdbeben bekommen, das sei bisher nicht der Fall. Bereits in der Schule müssen Kurse gegeben werden. „Zwischen 20 und 50 Prozent der Todesfälle haben ihre Ursache in Fehlverhalten der Personen während eines seismischen Ereignisses“, sagt Peduto.

    Erdbeben-Stärke: So wird sie gemessen

    Bei der Messung von Erdbeben wird die Stärke der Bodenbewegung angegeben (Magnitude).

    Jeder Punkt bedeutet etwa eine Verzehnfachung der Bebenstärke. Ein Erdbeben der Magnitude 5,0 ist demnach zehnmal so stark wie eines mit 4,0.

    Früher wurde die Erdbebenstärke einheitlich nach der Richterskala bestimmt. Der amerikanische Geophysiker Charles Francis Richter hatte die Skala 1935 speziell für Kalifornien ausgearbeitet.

    Heute wird die Skala nur noch eingeschränkt eingesetzt, auch weil das Verfahren nur bei Erschütterungen in der Nähe der Messstationen zuverlässige Werte liefert.

    Durchgesetzt hat sich immer mehr die Momentmagnitude. Als einzige bezieht sie sich direkt auf die Vorgänge am Erdbebenherd.

    Weltweit treten jährlich zwischen 1500 und 2000 Erdbeben mit Stärken über 5,0 auf.

    Mit einer Stärke höher als 8,0 bebt die Erde durchschnittlich einmal pro Jahr.

    Das heftigste bisher auf der Erde gemessene Beben hatte eine Magnitude von 9,5 und ereignete sich 1960 in Chile.

    Andererseits monieren die Experten die mangelnde Sicherung der Gebäude gegen Erdbeben. Ihr Einsturz verursacht die meisten Todesfälle. Obwohl Italien das am meisten von Erdbeben betroffene Land in Europa ist, seien 70 Prozent aller Immobilien nicht erdbebensicher. Grund dafür ist auch die alte Bausubstanz, wie in den teilweise mittelalterlichen Dörfern Amatrice oder Accumoli. Steuerbegünstigungen für erdbebensichere Renovierungen privater Gebäude erwiesen sich bislang als Flop, Eigentümer haben oft weder Mittel noch Interesse an aufwendigen Umbauten.

    Gegen die Kategorisierung privater Gebäude wehren sich Italiens Immobilieneigentümer bislang erfolgreich. Die Etikettierung eines Hauses als unsicher hätte entweder eine Entwertung oder aufwendige Umbaumaßnahmen zur Folge. „Die Regierung muss wenigstens Krankenhäuser und Schulen sichern lassen“, sagt Seismologe Massimo Cocco. Geologe Peduto fordert gar einen nationalen Plan zur Sicherung der Gebäude.

    Erst als im Herbst 2002 in der Region Molise 27 Kinder und eine Lehrerin nach einem Erdstoß in ihrer Schule erdrückt wurden, begann die Regierung mit der Unterteilung des Landes in verschiedene Gefahrenzonen. Erdbebensicheres Gebiet gibt es demnach seit 2004 in Italien offiziell nicht mehr. Konsequenzen aus der Erfassung der sensiblen oder strategisch wichtigen Gebäude wurden aber nur ungenügend gezogen. Immer noch sind zahlreiche Schulen nicht erdbebensicher. So ist beim jetzigen Beben in Mittelitalien auch das Schulgebäude von Amatrice eingestürzt, in dem sich Kindergarten, Grund- und Mittelschule befinden, obwohl es 2012 angeblich erdbebensicher renoviert worden ist.

    Da sich das Beben nachts ereignet, ist das Gebäude glücklicherweise leer. Auch das Rathaus von Amatrice fällt in sich zusammen, das Krankenhaus ist evakuiert und unbegehbar. Die Staatsanwaltschaft aus der Provinzhauptstadt Rieti ermittelt. mit dpa, afp

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