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Hintergrund: Rückt die türkische Justiz von ihrer harten Linie ab?

Hintergrund

Rückt die türkische Justiz von ihrer harten Linie ab?

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    Der deutsche Außenminister genießt die milden Temperaturen in der Türkei bei seinem Treffen mit dem Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu.
    Der deutsche Außenminister genießt die milden Temperaturen in der Türkei bei seinem Treffen mit dem Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu. Foto: Cem Ozdel, dpa

    In der Türkei deutet sich ein Abrücken von der bisherigen harten Linie bei der Verfolgung Andersdenkender und von Regierungskritikern an. Nach einem Urteil des Berufungsgerichts, das regierungstreuen Richtern und Staatsanwälten erstmals Grenzen setzt, werden laut Presseberichten "wichtige Veränderungen" in der Justiz erwartet. Auch ein informelles Treffen des türkischen Außenministers Mevlüt Cavusoglu mit seinem deutschen Kollegen Sigmar Gabriel am Wochenende in Antalya gehört zu den Signalen, die auf ein Ende der kompromisslosen Haltung Ankaras hindeuten.

    Die Entlassung von 150000 Staatsbediensteten und die Inhaftierung von mehr als 50000 Verdächtigen seit dem Putschversuch des vergangenen Jahres wird nicht nur im westlichen Ausland, sondern auch in der Türkei immer lauter kritisiert. Bisher argumentierte Ankara, bei der Suche nach den Schuldigen des Umsturzversuches werde eine Art Schleppnetz-Taktik angewendet, bei der vorübergehend mehr Menschen in die Fänge der Justiz geraten, als am Ende rechtskräftig verurteilt werden. Doch diese Haltung gerät immer mehr unter Druck.

    Menschenrechtler Peter Steudtner war in der Türkei im Gefängnis

    Inzwischen reiche in der Türkei eine Denunziation durch einen anonymen Anrufer oder durch die Regierungspresse, um in Haft zu kommen, kritisierte der Kolumnist Murat Yetkin in der Hürriyet. Dabei bestehe das einzige Vergehen vieler Beschuldigter wie des kürzlich verhafteten Geschäftsmannes und Kulturmäzens Osman Kavala darin, dass sie anders seien, als die Regierung sich das wünsche.

    Zuletzt hatte das Verfahren gegen den Berliner Menschenrechtler Peter Steudtner und zehn weitere Aktivisten die Zweifel an der Justiz verstärkt: Die Beschuldigten wurden über Monate unter schwersten Vorwürfen staatsfeindlicher Aktivitäten in Haft gehalten und von der regierungsnahen Presse als Aufrührer beschimpft, dann aber angesichts der offensichtlich absurden Vorwürfe gleich am ersten Verhandlungstag freigelassen.

    Folgen jetzt Freilassungen von Regierungsgegnern?

    Nun deutet sich an, dass in der türkischen Justiz ein Umdenken einsetzt. Der Oberste Berufungsgerichtshof setzte den Behörden vorige Woche in einem Grundsatzurteil klare Grenzen für die Verfolgung mutmaßlicher Putschanhänger. Demnach müssen Staatsanwälte und Richter konkrete Beweise für eine Mitgliedschaft eines Verdächtigen in der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen vorlegen, die für den Putschversuch verantwortlich gemacht wird. In dem vorliegenden Fall war ein Mann unter anderem deshalb zu sechs Jahren Haft verurteilt worden, weil er eine zur Gülen-Bewegung gehörende Zeitung abonniert hatte. Das reiche nicht für eine Verurteilung, entschieden die Berufungsrichter. Der Mann wurde freigelassen. Einige Kommentatoren rechnen nun damit, dass jetzt weitere Freilassungen folgen, weil viele mutmaßliche Regierungsgegner in den vergangenen anderthalb Jahren auf der Basis ähnlich fragwürdiger Beweise in Haft gekommen sind. Zugleich soll Ministerpräsident Binali Yildirim im Kabinett gesagt haben, der Ausnahmezustand, der die Verfolgung angeblicher Regierungskritiker erheblich erleichtert, erschwere den Normalbürgern das Leben und schade dem Image der Türkei im Ausland. "Das sind gute Nachrichten", kommentierte der Journalist Fehmi Koru, ein ehemaliger Anhänger von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, der sich seit einigen Jahren von der Regierung distanziert.

    In der Türkei sind rund 150 Journalisten inhaftiert

    Auch bei den rund 150 inhaftierten Journalisten, darunter auch der deutsch-türkische Reporter Deniz Yücel, zeichnen sich Erleichterungen ab. Der Hürriyet-Journalist Abdulkadir Selvi, der für seine exzellenten Kontakte zu der Regierung in Ankara bekannt ist, schrieb kürzlich, das "Klima" hinsichtlich der inhaftierten Journalisten und Intellektuellen wandele sich. "In der Justiz spielen sich wichtige Veränderungen ab", betonte Selvi. "Es werden Schritte hin zur Normalisierung eingeleitet." Details könne er noch nicht nennen.

    Möglicherweise hängt die Entwicklung auch mit anstehenden Urteilen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes zusammen, die in den kommenden Wochen erwartet werden und an die sich die Türkei als Mitglied des Europarates halten muss. Den Straßburger Richtern liegen Klagen von Yücel und mehreren inhaftierten Journalisten der Oppositionszeitung Cumhuriyet vor. Allgemein wird mit Urteilen zugunsten der Journalisten gerechnet, die zum Teil seit mehr als einem Jahr ohne Urteil in Haft sitzen; bei Yücel gibt es nicht einmal eine Anklageschrift.

    Deutsche Gefangene in der Türkei

    In der Türkei sind mindestens sechs Bundesbürger aus politischen Gründen inhaftiert, die Dunkelziffer dürfte noch höher sein.

    Die Inhaftierungen haben eine schwere Krise zwischen Berlin und Ankara ausgelöst.

    Die Bundesregierung fordert die Freilassung der Deutschen.

    Das sind die Gefangenen:

    Ilhami A. (46)aus Hamburg: Der Taxifahrer aus Hamburg wurde Mitte August in der osttürkischen Provinz Elazig verhaftet. Der Vorwurf lautet Propaganda für die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK, die in der Türkei und der EU als Terrororganisation gilt.

    Dennis E. (55) aus Hamburg: Auch im Fall Dennis E. geht es um Facebook-Posts und den Vorwurf der Terrorpropaganda für die PKK. Die türkische Polizei nahm den 55-Jährigen Ende Juli bei einem Besuch im südtürkischen Iskenderun fest, wo er auch inhaftiert ist. 

    Hozan Cane (Mitte 40) aus Köln: Polizisten hielten vor den Wahlen Ende Juni einen Bus der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP an und nahmen die kurdischstämmige Sängerin mit dem Künstlernamen Hozan Cane mit. Cane hatte im westtürkischen Edirne eine Wahlkampfveranstaltung der HDP unterstützt. Ihr wird die Mitgliedschaft in der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK vorgeworfen. 

    Adil Demirci (Anfang 30) aus Köln: Der Sozialarbeiter war Mitte April in Istanbul festgenommen worden. Er schrieb aus Deutschland frei für die linke Nachrichtenagentur Etha, für die auch Mesale Tolu arbeitete. Wie Tolu wird Demirci Mitgliedschaft in der linksextremen Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei vorgeworfen. Die MLKP gilt in der Türkei als Terrororganisation. 

    Patrick K. (29) aus Gießen: Patrick K. war Mitte März nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu im türkisch-syrischen Grenzgebiet festgenommen worden. Anadolu schreibt, er habe sich in Syrien der Kurdenmiliz YPG anschließen wollen. Nach Angaben seiner Familie war K. zum Wandern in der Türkei. 

    Enver Altayli (73): Schon ein Jahr lang sitzt Altayli ohne Anklage in Einzelhaft - seine Familie macht sich Sorgen um seine Gesundheit. Altayli ist Jurist und arbeitete in den 60er Jahren für den türkischen Geheimdienst MIT. Im August vergangenen Jahres war er in Antalya festgenommen worden, wo die Familie eine Ferienanlage betreibt. Ihm wird Unterstützung der Gülen-Bewegung vorgeworfen, die in der Türkei als Terrororganisation eingestuft ist.

    Diese Deutschen wurden mittlerweile freigelassen und konnten in ihre Heimat zurückkehren:

    Peter Steudtner (45): Der Menschenrechtler ist Ende Oktober nach mehr als drei Monaten in Untersuchungshaft freigekommen.

    Mesale Tolu (34) kehrte am 26. August 2018 zurück in ihre Heimat Neu-Ulm. Die Journalistin war im April 2017 von schwer bewaffneten Polizisten festgenommen. Nach 17 Monaten in Gefangenschaft konnte sie nach Deutschland zurückkehren.

    Deniz Yücel: Der44-Jährige saß vom 14. Februar 2017 bis zum 16. Februar 2018 wegen angeblicher Terrorpropaganda in türkischer Untersuchungshaft. Nach rund einem Jahr konnte der Korrespondent nach Deutschland zurückkehren.

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