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Hintergrund: Merkels Zittern: Wenn die Krankheit zum Politikum wird

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    Kanzlerin Angela Merkel bei ihrer ersten Arbeitssitzung beim G20-Gipfel in Japan.
    Kanzlerin Angela Merkel bei ihrer ersten Arbeitssitzung beim G20-Gipfel in Japan. Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa (Archiv)

    Es ist ein Titel, der mit einer Mischung aus Respekt und Staunen verliehen wurde: „Königin der Nacht“ wird Angela Merkel genannt – weil sie selbst die quälendsten Gipfeltreffen zu schlaftrunkener Zeit mit erstaunlicher Gelassenheit und Fitness übersteht. Wenn die anderen das Kopfkissen herbeisehnen, dreht sie erst auf. Die Konstitution der Bundeskanzlerin ist beinahe legendär. Sie braucht wenig Schlaf, ist praktisch nie krank, zeigt nie auch nur einen Hauch von Schwäche. Sie selbst erklärte einmal, dass sie Schlaf quasi „kamelhaft“ speichern könne.

    Und so lässt sie sich auch diesmal, einen Tag nach ihrem zweiten Zitteranfall, nichts anmerken. Während Deutschland über ihren Gesundheitszustand rätselt, reist Merkel nach Japan zum G20-Gipfel. Mehr als elf Stunden dauert der Flug im Airbus A340. Auf der Reise leuchten mehrfach wegen teils heftiger Turbulenzen die Anschnall-Zeichen auf. Wer bei einem solchen Gerüttel schlafen kann, braucht schon eine gehörige Gemütsruhe. Dabei wäre Schlaf wichtig: Denn Flüge nach Asien sind Reisen gegen die Uhr. Merkel und ihre Delegation landen um Mitternacht deutscher Zeit in Osaka, in der japanischen Millionenmetropole beginnt da mit Sonnenschein schon der neue Tag. Merkel muss dann auch noch bei schwüler Witterung den weiten Weg zum Gipfelort zurücklegen. Und trotzdem: Auf dem Flug nach

    Schwächeanfall von Angela Merkel wird überall thematisiert

    Ihr Schwächeanfall hatte sich freilich trotzdem bereits weltweit herumgesprochen. „Chancellor, how are you feeling?“ (Frau Bundeskanzlerin,wie fühlen Sie sich?) wollte eine US-Journalistin wissen. Eine Antwort bekam sie auch deshalb nicht, weil Fragen von Reportern bei solchen Anlässen nicht üblich sind und nicht zugelassen werden.

    Auch wenn Merkels Krankenakte beeindruckend kurz ist – ganz leer ist sie nicht. 2013 brach sich die Kanzlerin bei einem Sturz auf einer vereisten Langlauf-Loipe den Beckenring. Erst mehrere Tage später ging sie zum Arzt, obwohl die Schmerzen groß gewesen sein müssen. Der Spiegel will wissen, dass sie damals nach der Diagnose gescherzt habe, dass sie froh sei, keine Simulantin zu sein. Auf Anraten ihrer Ärzte machte Merkel anschließend sogar eine Diät und wollte mehr auf ihre Gesundheit achten. „Plötzlich so schlank“, titelte die Bild-Zeitung damals und enthüllte Hintergründe und Essensregeln der Kanzlerin.

    Und dann war da die Reise nach Mexiko im Jahr 2017. Der Flug von Deutschland war ebenfalls lang, es gab Verzögerungen, es war brütend heiß – und die Kanzlerin fing im barocken Innenhof des Präsidentensitzes ebenfalls an zu zittern und ganz leicht zu wanken. Schon seinerzeit wurde das damit begründet, Merkel habe zu wenig getrunken.

    Auch Kohl stand kurz vor dem Zusammenbruch

    Die Liste derer, die Probleme im Umgang mit körperlichen Schwächen haben, ist lang: Altkanzler Helmut Kohl stand auf einem Parteitag 1989 wegen heftiger Unterleibsschmerzen kurz vor dem Zusammenbruch. „Ich bekam wahnsinnige Schmerzen, und es kam mir vor, als könnte ich jeden Moment ohnmächtig werden“, schrieb er in seinen Erinnerungen. Kohl, der unter Prostata-Geschwülsten litt, hielt aber durch. Grund: Die Furcht vor einem Putsch. Sein Vorgänger Helmut Schmidt (SPD) hatte lebensgefährliche Herzrhythmusstörungen, ohne dass die Öffentlichkeit davon erfuhr. Horst Seehofer ignorierte gesundheitliche Probleme so lange, bis er 2002 mit einer Herzmuskelerkrankung auf der Intensivstation landete. Später sagte er einmal: „Natürlich sind wir alle Junkies.“

    In den USA wird die Gesundheit des Präsidenten weit häufiger zum Thema gemacht – jährlich hat sich das Staatsoberhaupt einem Gesundheitscheck zu unterziehen, der in den Medien ausgewalzt wird. Doch selbst wenn bei dem Test eine schwerwiegende gesundheitliche Problematik des Präsidenten festgestellt werden sollte: Die Öffentlichkeit würde es wohl nicht erfahren. Donald Trump selbst entscheidet, welche Details bekannt werden. Deshalb wird das allzu Offensichtliche genüsslich seziert: Mediziner machen sich in den

    Macron verzichtet auf Gesundheitszeugnis

    Fitter ist Emmanuel Macron. Doch als im vergangenen Oktober ein Ministerrat aus „persönlichen Gründen“ des französischen Präsidenten verschoben wurde, sorgte das für Nervosität: Hatte Macron ein gesundheitliches Problem? Bekanntermaßen schläft er wenig und arbeitet unermüdlich. Der Élysée-Palast beschwichtigte, verzichtete aber dennoch weiterhin auf die regelmäßige Veröffentlichung eines Gesundheitszeugnisses des Präsidenten, wie es unter François Hollande und etwas seltener unter Nicolas Sarkozy üblich war. Sarkozys kurzzeitige Einlieferung in ein Krankenhaus wegen eines Schwächeanfalls während des Joggens im Sommer 2009 hatte für große Unruhe gesorgt: Der französische Staatschef konzentriert eine große Machtfülle auf sich, ja, er ist die personalisierte Macht – ein Ausfall würde ein Vakuum öffnen. Macron selbst sagte, die Gesundheit sei zwar Privatsache, doch die Franzosen hätten ein Recht, „in vernünftigem Ausmaß über den Zustand ihres Präsidenten informiert zu sein, der in der Lage sein muss, seine Aufgaben zu erfüllen“. Man dürfe aber nicht in „Voyeurismus“ verfallen.

    Die besondere Sensibilität bei dem Thema rührt von Ex-Präsident François Mitterrand her, der wohl bereits kurz nach seiner Wahl 1981 von seinem Prostatakrebs erfuhr. Dennoch untersagte er seinem Arzt, dieses „Staatsgeheimnis“ zu lüften, und ließ sich 1988 für eine zweite Amtszeit erneut wählen. Erst nach einer Operation 1992 erfuhren die Franzosen von Mitterrands Erkrankung – und damit auch, dass die regelmäßig veröffentlichten Gesundheitszeugnisse gelogen waren. Gut sechs Monate nach Ende seines zweiten Mandats starb Mitterrand.

    Francois Mitterrand: Seine Krebserkrankung war ein Staatsgeheimnis.
    Francois Mitterrand: Seine Krebserkrankung war ein Staatsgeheimnis. Foto: dpa (Archiv)

    Juncker versagen immer wieder die Beine

    Für Krankheit oder auch „nur“ Überforderung bei Politikern ist auch in der EU kein Platz. Einzige Ausnahme: der amtierende Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. 1989, drei Wochen vor dem Mauerfall, wurde er bei einem Autounfall schwer verletzt. Er lag mehrere Wochen im Koma – die Nachwirkungen spürt er heute noch: Ischias-Probleme plagen ihn schubartig, mal sind es die Beine, die den Dienst versagen, mal muss er auch bei öffentlichen Auftritten gestützt werden.

    Zu einem Politikum wurden diese Einschränkungen, weil dem Luxemburger nachgesagt wird, ab und zu auch mal ein Glas zu viel zu trinken. Die Zahl derer, die schon einmal eine Fahne gerochen haben wollen, ist groß. Seine Sprecher haben dann alle Hände voll zu tun, an die Rückenbeschwerden zu erinnern. Für Schwächen des Alters oder Spätfolgen von Verletzungen gibt es kein Verständnis.

    Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission: Über seinen Gesundheitszustand gibt es immer wieder Gerüchte.
    Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission: Über seinen Gesundheitszustand gibt es immer wieder Gerüchte. Foto: Uwe Zucchi, dpa (Archiv)

    Zumindest ein wenig gnädiger scheint man in Österreich zu sein. Dort begegnet man kranken Politikern auffallend mitfühlend und diskret. 1994 litt Außenminister Alois Mock, ÖVP, unübersehbar unter Parkinson. Dennoch blieb er in langen EU-Gipfelnächten der offizielle Vertreter Österreichs in den Verhandlungen über Österreichs EU-Beitritt.

    Die Loyalität der Politiker untereinander setzt Standards auch für Medien. Sie berichten zurückhaltend und schützen die Privatsphäre, auch wenn das inzwischen durch soziale Medien konterkariert wird. 2013 und 2015 erkrankten Parlamentspräsidentin Barbara Prammer, SPÖ, und Gesundheitsministerin Sabine Oberhauser, SPÖ, im Amt an Krebs. Beide gingen bis zu ihrem Tod offen mit der Erkrankung um. Oberhauser, selbst Ärztin, ließ die Öffentlichkeit mit Hilfe ihres Teams über Facebook am Verlauf ihre Krankheit teilnehmen. So vermied sie weitgehend unerwünschte Krankenhausfotos.

    Berlusconi gab alles für die Politik

    Paolo Gentiloni war der letzte italienische Spitzenpolitiker, dessen Gesundheit im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stand. Im Januar 2017 erlitt der damals 62 Jahre alte Ministerpräsident einen Schwächeanfall. Dabei hat Italien eine gewisse Übung mit den Gesundheitsproblemen seiner Politiker. Das ist nicht zuletzt Ex-Premier Silvio Berlusconi zu verdanken, der seine Physis durchaus politisch zu nutzen wusste.

    Italiens Ex-Premier Silvio Berlusconi verstand es, seinen Gesundheitszustand politisch für sich zu nutzen.
    Italiens Ex-Premier Silvio Berlusconi verstand es, seinen Gesundheitszustand politisch für sich zu nutzen. Foto: Ettore Ferrari, dpa (Archiv)

    In Erinnerung sind nicht nur öffentlich haarklein debattierte Haartransplantationen, sondern auch mehrfache Schwächeanfälle, die Berlusconis Clan dann dem unermüdlichen Einsatz des heute 82-Jährigen für sein Heimatland ankreidete. Der letzte datiert vom Mai, kurz vor der EU-Wahl. Auch Berlusconis Diäten wurden Gegenstand öffentlicher Betrachtungen, sein Leibarzt Alberto Zangrillo ist durchaus als Person des öffentlichen Lebens zu bezeichnen.

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