Die Union triumphierte. An ihrem klaren Wahlsieg gab es nichts zu rütteln. Deutlich lag die Regierungspartei vor der SPD, ihrem Juniorpartner in der Großen Koalition. Alles sprach dafür, dass sie weiterhin regieren und den Kanzler stellen würde.
Doch es kam völlig anders. Der Kanzler, der als Sieger ins Bett gegangen war, wachte als Verlierer wieder auf. Denn noch in der Wahlnacht vereinbarten SPD und FDP, Koalitionsverhandlungen aufzunehmen. CDU und CSU landeten auf den harten Bänken der Opposition – auf denen sie 13 lange Jahre sitzen sollten.
Das war vor 48 Jahren – am 28. September 1969. Mit ihrem Coup in der Wahlnacht beendeten SPD-Chef Willy Brandt und sein FDP-Kollege Walter Scheel die 20-jährige Regierungszeit der Union und sorgten für den ersten demokratischen Machtwechsel in der noch jungen Geschichte der Bundesrepublik.
Geht es nach Martin Schulz, dem neuen SPD-Chef und Kanzlerkandidaten, könnte sich genau dieses Szenario nach der Bundestagswahl am 24. September wiederholen. Die SPD, der Rolle als Juniorpartner an der Seite der Union überdrüssig, schmiedet mit der FDP ein neues Bündnis, um endlich wieder den Kanzler zu stellen.
Schulz jedenfalls, auf der Suche nach einer Mehrheit für sich und seine Partei, rollt schon mal verbal den roten Teppich aus und umschmeichelt die Liberalen. Die erste sozialliberale Koalition von 1969 bis 1982 habe Deutschland „ganz sicher moderner und demokratischer gemacht“. Die Sache hat nur einen Haken: Martin Schulz ist nicht Willy Brandt – und Christian Lindner nicht Walter Scheel.
Die beiden charismatischen Parteichefs hatten damals nicht nur das völlig neue Bündnis auf Bundesebene durch eine Koalition in Nordrhein-Westfalen ab 1966 unter dem damaligen SPD-Ministerpräsidenten Heinz Kühn vorbereitet, sondern besaßen auch eine gemeinsame Agenda in der Innen-, Gesellschafts-, Bildungs- und vor allem in der Außenpolitik, die sie zueinanderführte und erfolgreich aneinanderband.
Man wolle „mehr Demokratie“ wagen, verkündete Willy Brandt in seiner Regierungserklärung – und das war durchaus programmatisch gemeint, um die gesellschaftspolitische Stagnation nach der Ära Adenauer zu beenden. Nach außen führte die Ostpolitik das Land aus der Sackgasse in der Deutschlandfrage heraus und machte den Weg für den Entspannungsprozess der siebziger Jahre frei.
Ein derartiges überwölbendes Projekt, das eine sozialliberale Koalition programmatisch begründet, ist allerdings in diesem Jahr nicht zu erkennen. Was würden SPD und FDP anders machen? Bei welcher elementaren Zukunftsfrage sind ihre Schnittmengen so groß, dass sie die vorhandenen Differenzen in vielen anderen Themenfeldern überbrücken?
Man sucht – und findet nichts. Ob bei der inneren Sicherheit oder der sozialen Gerechtigkeit, der Steuerpolitik oder dem Verhältnis zwischen Individuum und Staat – Welten liegen zwischen den Sozialdemokraten und Liberalen.
So sind die Schulz’schen Flirtversuche zwar schön für Christian Lindner, weil seine FDP nach vierjähriger Abstinenz auf der Bühne der Bundespolitik wieder als wichtige Kraft entdeckt und hofiert wird, aber gleichzeitig auch Ausdruck der unverändert schwierigen Lage der SPD. „Die SPD will nur irgendwie an die Macht, egal mit welchem Partner“, sagt CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Rechnung aufgeht.“
Doch nachdem die Wähler an der Saar Rot-Rot eine klare Absage erteilt haben, braucht Schulz dringend eine neue Machtoption, um Kanzler zu werden. In Rheinland-Pfalz funktioniert seit einem Jahr eine rot-gelb-grüne Ampel-Koalition überraschend gut.
Aber taugt das auch als Modell für den Bund? In Mainz waren sich SPD und FDP schon immer näher als im Rest der Republik, Bundespolitik ist ein anderes Kaliber als die überschaubare Landespolitik.
Doch Schulz hat keine Wahl, zumal die Grünen schwächeln. Kanzler kann er wohl, wie einst Willy Brandt, nur mithilfe der FDP werden und nicht als stärkste Kraft in einer Großen Koalition. Denn inzwischen verpufft der Schulz-Effekt in bundesweiten Umfragen.
Die Union führt wieder deutlich mit drei Prozentpunkten vor der SPD. Auf die Frage, wen sie nach der Bundestagswahl lieber als Kanzler hätten, nannten im ZDF-Politbarometer vom Freitag 48 Prozent CDU-Amtsinhaberin Angela Merkel und 40 Prozent den SPD-Herausforderer Schulz. Im März lagen beide mit 44 Prozent noch gleichauf.
FDP-Chef Lindner freut sich zwar, dass „die SPD ihre alten Feindbilder einpackt“, zieht aber inhaltliche Grenzen. Wenn die SPD „vor allem über Steuererhöhungen sprechen will, dann werden die Gespräche kurz“. Und auch im nagelneuen FDP-Wahlprogramm steht eher Trennendes – etwa neue Privatisierungen.
Das SPD-Programm ist zwar noch offen, aber der FDP-Chef schränkt ein: „Das, was Herr Schulz vorträgt, erinnert an eine Agenda 1995.“ Und die sei weit entfernt von der halb modernen „Agenda 2010“, erst recht von seiner eigenen zukunftsorientierten „Agenda 2030“. (mit dpa)
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