Fast jeden Tag wird in der Türkei eine Frau umgebracht – doch die türkische Regierung überlegt sich, ob sie aus einem internationalen Vertrag zur Eindämmung der Gewalt gegen Frauen aussteigen soll. Islamistische Gruppen fordern, Präsident Recep Tayyip Erdogan solle das Istanbuler Abkommen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen aufkündigen.
Wie die kürzliche Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee könnte die Aufkündigung des Abkommens Erdogans religiös-nationalistische Anhängerschaft motivieren. Doch während es für die Umwidmung der Hagia Sophia in der Regierungspartei AKP einen breiten Konsens gab, ist die Forderung nach einer Aufkündigung der Frauen-Konvention in der Partei und selbst in Erdogans eigener Familie umstritten.
Der Vertrag will auch Diskriminierung und Zwangsehen eindämmen
Erdogan hatte das Istanbuler Abkommen des Europarats im Jahr 2011 als damaliger türkischer Ministerpräsident selbst unterschrieben. Der Vertrag verpflichtet die Teilnehmerstaaten zu einem entschlossenen Kampf gegen körperliche, sexuelle und seelische Gewalt gegen Frauen.
Auch Diskriminierung und Zwangsehen sollen bekämpft werden. Frauenrechtsgruppen kritisieren, dass die Türkei ihren Vertragsverpflichtungen nicht nachkomme. 2019 wurden nach Zählung der Organisation „Wir stoppen die Gewalt gegen Frauen“ 417 Frauen von ihren Ehemännern, Partnern oder Ex-Männern getötet; 2020 sind es bisher 202 Opfer.
Regierungsanhänger: Der Vertrag ist ein Angriff auf den Islam
Doch nach Presseberichten verlangt die einflussreiche islamische Ismailaga-Gemeinschaft von Erdogan, er solle das Abkommen kündigen. Der stellvertretende AKP-Vorsitzende, Numan Kurtulmus, der zum religiösen Flügel der Partei gehört, brachte den Ausstieg vor einem Monat erstmals öffentlich ins Gespräch.
Seitdem melden sich immer mehr Regierungsanhänger mit der Forderung nach einem Ausstieg aus dem Abkommen. Sie verdammen den Vertrag als Angriff auf den Islam, auf den Zusammenhalt der Familie und als Ermunterung zur Homosexualität. Anhänger des Vertrags halten dagegen, dass die Konvention keineswegs die Homosexualität fördere und auch nicht männerfeindlich sei.
Türkei: Frauengruppen rufen zur Demonstrationen auf
Mehrere Frauengruppen haben für diesen Mittwoch in Istanbul zu einer Demonstration aufgerufen, um das Abkommen zu verteidigen. In einigen Städten gab es bereits Kundgebungen von Frauen, die eine Beibehaltung des Vertrags forderten. Laut einer Umfrage sind zwei von drei Türken gegen einen Ausstieg.
Ob die Demonstrationen das Abkommen retten können, ist ungewiss. Vertragsgegner finden alle Bestrebungen verdächtig, Frauen mehr Selbstbestimmung zu ermöglichen. Auch Erdogan sprach sich in der Vergangenheit für die traditionelle Rollenverteilung in der Familie aus. Er wirbt vehement für kinderreiche Familien.
Doch die Gesellschaft verändert sich. Die Geburtenrate ist in den vergangenen 20 Jahren von 2,4 auf 1,9 gefallen. Der Anteil der Ein-Personen-Haushalte steigt seit Jahren und hat 15,4 Prozent der Gesamthaushalte erreicht. Gleichzeitig wächst die Zahl der Frauen mit Hochschulabschlüssen. Bei diesen Entwicklungen wirkt es anachronistisch, Frauen in überkommene Muster zwängen zu wollen.
Auch die Politik äußert Kritik an einem geplanten Ausstieg
Das wird Erdogan möglicherweise auch privat zu hören bekommen. Der konservative Frauenverband Kadem, bei dem die Präsidententochter Sümeyye Erdogan-Bayraktar Vizevorsitzende ist, machte in den vergangenen Tagen mit einem Bekenntnis zur Istanbul-Konvention von sich reden.
Auch aus der AKP-Parlamentsfraktion kommt Kritik an den Ausstiegsplänen. Nun konnten die Anhänger des Vertrages einen ersten Etappensieg erringen: Erdogan ließ laut Presseberichten eine für diese Woche geplante Vorstandssitzung der AKP zur Istanbul-Konvention wegen des Streits in der Partei verschieben.
Das könnte Sie auch interessieren:
- Starke Kontrollen geplant: Erdogan legt sich mit Twitter und Co. an
- Erdogan lässt christliche Mosaike in Hagia Sophia verhüllen
- Vor 30 Jahren hielt dieser Wüstensturm die Welt in Atem
Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.