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Hintergrund: Auf der Suche nach Antworten: Hier wohnte der Attentäter von Würzburg

Hintergrund

Auf der Suche nach Antworten: Hier wohnte der Attentäter von Würzburg

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    Gaukönigshofen, etwa 20 Kilometer südlich von Würzburg, 2500 Einwohner, ein Idyll. Hier hat Riaz K. zuletzt gewohnt.
    Gaukönigshofen, etwa 20 Kilometer südlich von Würzburg, 2500 Einwohner, ein Idyll. Hier hat Riaz K. zuletzt gewohnt. Foto: Thomas Fritz

    Am Sonntag sitzt er noch mit seiner Pflegefamilie beim Pfarrfest. Entspannt, friedlich, so, wie ihn später viele beschreiben werden. Abends fährt Riaz K. mit dem Fahrrad zum Ochsenfurter Bahnhof, steigt in den Regionalzug nach Würzburg, packt auf der Toilette Axt und Messer aus, geht auf Reisende los und richtet ein Blutbad an. Und Gaukönigshofen, wo er die letzten zwei Wochen gelebt hat, wird mit einem Schlag zum Mittelpunkt der Welt.

    Mittwoch früh. Die Straßen in der unterfränkischen Gemeinde sind leer. „Das ist hier immer so“, sagen die beiden Verkäuferinnen in der Bäckerei. Das Attentat? Hier kennt jeder jeden, das sagt man doch so, aber über den Jungen, sagen die Frauen, wüssten sie nichts. Er hat doch erst seit kurzem hier gewohnt. Ein paar hundert Meter weiter, bei der Familie, die ihn aufgenommen hat. Polizisten schirmen sie ab.

    Ebenso die Kinder der Mittelschule. Zwei bewaffnete Beamte in Zivil stehen vor dem Pausenhof, auf dem die Schüler tollen. Fernsehteams versuchen, ein paar Zitate einzufangen. Schulleiter Michael Hümmer schickt sie weg. „Seit Montag haben wir ein Kriseninterventionsteam in der Schule. Psychologen, die uns bis Ende dieser Woche begleiten“, erzählt er. Es gebe durchaus Schüler, die jetzt Angst haben. Vor allem in den Klassen, in denen man Riaz gut gekannt hat, seien die Psychologen präsent.

    Über den 17-Jährigen selbst, der eine der beiden Übergangsklassen an der Mittelschule besucht hat, will Michael Hümmer nicht sprechen. Am Dienstag hat er vor Unterrichtsbeginn alle 180 Schüler zusammengerufen, um ihnen von den Ereignissen der Nacht zu berichten. „Ich habe alle Fakten dargelegt, die bis dahin bekannt waren“, sagt er. Auch, dass Riaz nicht mehr lebt.

    Nach dem Axt-Attentat von Würzburg sucht das ganze Land nach Antworten

    Für gestern Abend hat der Rektor alle Eltern eingeladen. Zusammen mit den Psychologen will er auch sie über die Geschehnisse informieren. Mehr Erkenntnisse über Riaz und den Ablauf der Tat habe er zwar auch nicht, er will den Eltern aber die Möglichkeit zum Gespräch geben – und sie beruhigen.

    In einem schattigen Innenhof sitzen drei junge Frauen. Sie wollen ihre Namen nicht nennen, aber natürlich gibt es auch für sie nur ein Thema. Wie Riaz’ Pflegefamilie haben sie sich im örtlichen Helferkreis engagiert. Sechs Monate lang lebten etwa 60 Flüchtlinge in einer Notunterkunft im Ort. Die Frauen haben Essen ausgeteilt, die Flüchtlinge mit Kleidung versorgt, sind mit einigen der Männer spazieren gegangen, haben sich angefreundet. „Gaukönigshofen ist am Arsch der Welt. Und plötzlich sind wir der Mittelpunkt“, sagt eine von ihnen.

    Ob sie wieder helfen würden, genau so, wie es getan haben, nach all dem, was passiert ist? Aber ja, sagen sie sofort. Wenn auch nicht mehr so unbeschwert wie vorher. „Ich hätte schon Angst“, sagt eine. Riaz kannten sie nur flüchtig. Eine der drei hat ihn am Sonntagabend kurz nach acht noch auf seinem Fahrrad gesehen. Wie sollte sie wissen, dass er da auf dem Weg zum Bahnhof im nahen Ochsenfurt war? Dass er eine Axt und ein Messer im Gepäck hatte? „Heute weiß ich, dass ich eine tickende Zeitbombe gesehen habe. Bei dem Gedanken läuft es mir eiskalt über den Rücken.“

    Die Frau kennt die Pflegefamilie gut. Spontan hat sie sie am Dienstag in den Arm genommen. „Die haben es gut gemeint. Damit hat ja niemand rechnen können.“ 1123 Menschen leben in Gaukönigshofen, weitere 1400 in den Ortsteilen. Bernhard Rhein ist der Bürgermeister. „Das ist eine Tragödie“, sagt er. Heute will er die Familie besuchen. Will darüber reden, worauf sich so viele keinen Reim machen können.

    Das ganze Land sucht ja nach Antworten. Manche sagen, verzweifelt. Antworten vor allem auf die Frage, wie sich Riaz so schnell so radikalisieren konnte. Im Universitätsklinikum Würzburg, etwa 20 Kilometer nördlich von Gaukönigshofen, suchen sie nach einer ganz anderen Antwort. Hier zählt nur die Frage: Werden die beiden lebensgefährlich verletzten Hongkong-Chinesen, die in der Regionalbahn saßen, überleben?

    Das Interesse an der Gewalttat ist riesig in der Heimat der Opfer

    Es sind keine guten Neuigkeiten, die der Ärztliche Direktor Georg Ertl gestern den etwa 30 internationalen Journalisten berichtet. „Beide brauchen auf absehbare Zeit intensive Betreuung“, sagt der Mediziner. Der 62-jährige Familienvater und der 30-jährige Freund der Tochter sind in ein künstliches Koma versetzt worden. „Man muss die nächsten Tage, ja Wochen abwarten, und dann kann man mehr sagen.“ Bei so schweren Verletzungen, wie sie die beiden durch die Axthiebe und Messerstiche unter anderem an Kopf und Bauch erlitten haben, könnten immer Komplikationen auftreten, sagt Ertl.

    Wenigstens geht es den drei Frauen besser. Sowohl die deutsche Spaziergängerin, die der Täter auf seiner Flucht angriff, als auch die 58-jährige Mutter und die Tochter der chinesischen Familie seien außer Lebensgefahr. Die 26-Jährige wurde ins Klinikum Nürnberg gebracht, die Mutter wird in der Missionsärztlichen Klinik in Würzburg behandelt. Die Familie war chinesischen Medienberichten zufolge zur Hochzeit einer weiteren Tochter nach England gereist. Auf dem Rückweg besuchte sie die Touristen-Hochburg Rothenburg ob der Tauber. Was danach im Zug nach Würzburg passierte, hat eine weitere Tochter der Familie der Zeitung Apple Daily in Hongkong erzählt. Die 30-Jährige, die zu Hause in der Heimat geblieben ist, berichtet, zuerst sei der Angreifer auf den Freund ihrer Schwester losgegangen. „Als meine Mutter und mein Vater das sahen, stellten sie sich in den Weg und wurden dabei verletzt.“ Nur ihre 17-jährige Schwester blieb bei der Attacke unversehrt.

    In diesem Zug verletzte ein junger Flüchtling Reisende.
    In diesem Zug verletzte ein junger Flüchtling Reisende. Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa

    Die Sonne brennt vom Himmel, als die Verwandten gestern mit einer chinesischen Delegation in Würzburg ankommen, um die Patienten zu besuchen. Cai Hao, der stellvertretende Generalkonsul in München, sagt, seine Regierung werde das Geschehen in Würzburg genau beobachten: „Wir stehen in Kontakt mit dem bayerischen Innenminister und auch der Bundesregierung.“ Das Interesse an der Gewalttat ist riesig in der Heimat der Opfer. Das zeigen auch die vielen chinesischen Journalisten, die angereist sind. Fernsehreporterin Catherine Y.T. Chan ist mit ihrem Team seit Dienstag hier. „Die Menschen sind beunruhigt, aber noch wissen wir nicht, ob und warum das Attentat genau dieser Familie gegolten hat“, sagt Chan. Die Leute sprächen überall darüber. „Man hat keine Angst, aber wenn einer sagt, dass er nach Europa reist, sagen die Freunde: Pass auf dich auf.“

    Ein Zeuge während der Bluttat: "Da schlägt einer mit dem Beil auf die Nachbarin ein"

    Was soll da eine Frau sagen, die die Folgen der Bluttat mit ansehen musste? Die sagt: „Die Bilder dieser Nacht sind in meinem Kopf. Ich werde sie nicht los. Immer und immer wieder gehe ich sie durch.“ Sie hat die 51-jährige Spaziergängerin aus dem Würzburger Stadtteil Heidingsfeld gefunden, die der Täter auf seiner Flucht niedergestreckt und schwer verletzt hat. Sie will anonym bleiben. Aber sie erzählt.

    Die Zeugin stand gerade auf dem Balkon ihres Hauses in der Winterhäuser Straße und schaute aufs Mainufer, als sie einen jungen, dunkelhaarigen Mann am Garten vorbeigehen sah. „Er ist gegangen, nicht gerannt.“ Kurz darauf hörte sie Schreie, schreckliche Schreie. „Da schlägt einer mit dem Beil auf die Nachbarin ein“, rief ihr Sohn, der im Stockwerk über ihr aus dem Fenster schaute. Sie wusste, dass die Nachbarin abends gerne mit ihrem Hund hier spazieren geht. „Ich habe nicht überlegt. Ich bin hingelaufen. Das hätte doch jeder gemacht.“

    Heute ist der Seniorin klar, dass sie sich damit in Gefahr begeben hat. „Nichts bereitet einen auf eine solche Situation vor. Man handelt einfach.“ Während der Sohn den Rettungsdienst anrief, rannte sie durch den Garten in die Mainauen. Dort fand sie die Nachbarin – blutüberströmt. Die Frau sei noch bei Bewusstsein gewesen. „Sie hat mich gebeten: Kümmere dich um meinen Sohn. Kümmere dich um den Hund.“ Das hat sie getan. „Es hätte jeden von uns treffen können, jeden“, sagt die Frau. Sie will nun mit einem Notfallseelsorger sprechen. Irgendwie muss sie das verarbeiten.

    Dieser Abend hinterlässt an so vielen Stellen seine Spuren. An der Universität der Stadt etwa. Florian Evenbye, der Leiter des internationalen Studentenbüros, erzählt, dass von der Partner-Universität Hongkong sofort Solidaritätsbekundungen eingegangen sind, ebenso von europäischen Partner-Unis. „Wir haben international immer damit geworben, dass Würzburg ein sehr sicherer Ort zu leben und zu studieren ist. Gerade für Eltern, die ihre Kinder zum Studieren ins Ausland schicken, ist das ein wichtiger Aspekt“, sagt Evenbye. Er hofft, dass das Attentat das Vertrauen in Deutschland nicht erschüttert hat.

    Erste Familien geben Flüchtling-Pflegekinder wieder ab

    Diese Sorge teilen auch die Tourismusverbände der Region. „Ein einziger unglückseliger Terrorakt eines offensichtlich geistig verwirrten Menschen wirkt sich in der Branche sofort aus“, sagt Johann Kempter, stellvertretender Leiter des Rothenburger Tourismusservice. „Wenn in chinesischen Medien die Meinung entsteht, dass es in Europa unsicher ist, werden sofort Reisen abgesagt.“ Der Terrorakt in Brüssel etwa habe in Rothenburg sofort die Zahl japanischer Übernachtungsgäste gebremst.

    Im kleinen Gaukönigshofen ist dies nicht das Problem. Aber hier macht man sich nicht weniger Sorgen. Etwa um den Ruf der Mittelschule, der Übergangsklassen. Der CSU-Bundestagsabgeordnete Paul Lehrieder war lange Zeit hier Bürgermeister. „Riaz hat den positiven Ansätzen der Integration einen Bärendienst erwiesen“, sagt er.

    In der Tat. Nach Informationen unserer Zeitung haben erste Familien, die junge Flüchtlinge als Pflegekinder aufgenommen haben, diese wieder in die Obhut des Jugendamtes gegeben. Aus Angst, sie könnten ein ähnliches Schicksal erleiden wie die Familie in Gaukönigshofen.

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