In den letzten Jahrzehnten schien es banal, die Frage nach dem Wesen der europäischen Integration überhaupt zu stellen. Als Antwort brauchte man nur die Freizügigkeit von Personen, Arbeitern, Waren, Dienstleistungen und Kapital in Europa zu nennen. Der „Rest“, insbesondere die Wertegemeinschaft, ist in der Öffentlichkeit in Vergessenheit geraten. Aber jetzt steckt Europa wegen des Coronavirus in einer tiefen Krise. Es geht nicht nur um die Lebensgefahr für hunderttausende unschuldige Menschen, sondern um eine wirtschaftlich und politisch ungewisse Zukunft. Eine erfolgreiche Lösung kann nur europäisch sein, und dies entspricht auch den nationalen Interessen der Deutschen aus historischen, wirtschaftlichen und sozialen Gründen.
Das Coronavirus kennt keine nationalen Grenzen
Nach den materiellen, politischen und moralischen Trümmern des Zweiten Weltkrieges mussten die europäischen Staaten die Wirtschaft und die Gesellschaft wieder aufbauen und die kommunistische Gefahr sowie das Risiko eines weiteren Krieges bannen. Dies war der Hintergrund für den Beginn der europäischen Integration. Ohne diese wäre eine Rehabilitierung Deutschlands und Italiens in der internationalen Staatengemeinschaft wohl kaum gelungen. Dann kamen die Jahre des Wirtschaftsbooms, gefolgt vom Fall des Eisernen Vorhangs, der deutschen Wiedervereinigung und der Einführung des Euro.
Im Laufe der Jahre wurde die europäische Integration vom Durchschnitt der deutschen Bevölkerung zunehmend als eine Selbstverständlichkeit angesehen und teilweise sogar als etwas Lästiges. Wäre diese Einstellung der richtige Weg, um für Deutschland einen Ausweg aus der laufenden Krise zu finden? Das Coronavirus kostet täglich unzähligen Menschen das Leben. Die Bevölkerung, die Ärzte und Krankenpfleger in besonders hart betroffenen Staaten wie Spanien und Italien benehmen sich pflichtbewusst und beinahe heldenhaft. Die Suche nach einem wirksamen Medikament beziehungsweise Impfstoff muss europäisch koordiniert sein, weil nur damit die Wartezeit minimiert werden kann. Den Völkern, die am meisten leiden, muss noch mehr geholfen werden. Denn das Virus kennt keine nationalen Grenzen.
Des Weiteren ist die Corona-Krise dabei, die Wirtschaft in der EU weitgehend lahmzulegen. Nationale Hilfsmaßnahmen der Regierungen führen zu verheerenden Wettbewerbsverzerrungen. Falls die großen EU-Länder wie Deutschland denken, dass jeder Staat allein die Corona-Wirtschaftskrise bewältigen kann, irren sie sich. Die Corona-Rezession hat ein derartig gewaltiges Ausmaß, dass der deutschen Wirtschaft ein bedeutender Teil des europäischen Absatzmarktes abhandenkommen wird. Zudem ist auch die deutsche Wirtschaft mittlerweile derart mit Zulieferern aus dem EU-Ausland (namentlich aus Norditalien) verzahnt, dass die Produktionsketten nicht mehr funktionieren können, wenn Unternehmen von schwerer belasteten Mitgliedstaaten komplett ausfallen.
Nord- und Südeuropa müssen in der Corona-Krise jeweils den Standpunkt des anderen verstehen
Mit dem Vorschlag des „Sure“-Programms (zur Minderung von Arbeitslosigkeitsrisiken in Ausnahmesituationen) hat die EU-Kommission ein wichtiges Zeichen gesetzt. Die Europäische Zentralbank hat mit dem massiven Ankauf von Staatsanleihen reagiert. Diese Maßnahmen sind zeitlich befristet und hinsichtlich ihres Ausmaßes begrenzt. Es besteht das dringende Bedürfnis einer noch stärkeren und sichtbareren Antwort der EU auf die zahlreichen krisenbedingten Fragen.
Die Eurogruppe hat am 9. April auf die Schaffung eines „Recovery Fund“ hingewiesen, dessen Inhalt und Finanzierung aber noch offengeblieben sind. Die Frage ist namentlich politischer Natur. Um sie vernünftig zu lösen, muss der Norden wie der Süden den Standpunkt des anderen verstehen.
Gemeinsame Lösungen kann es nur geben, wenn jeder Staat mit Verantwortung seine ökonomischen und finanziellen Probleme anpackt. Gleichzeitig darf sich die EU gerade in Krisenzeiten nicht als reiner Wirtschaftsbund verstehen, in dem das einzelstaatlich geprägte, kurzsichtige finanzielle Kalkül überwiegt. Das Schlagwort der europäischen Werteunion ist daher in Anbetracht der Corona-Krise aktueller denn je.
In Italien waren es das Verantwortungsgefühl und die Zivilcourage, welche die erfolgreiche Bekämpfung des Terrorismus und der ökonomischen Krise in der ersten Hälfte der 90er Jahre erlaubt haben. Eine ähnliche positive Energie muss auch jetzt in Europa gefunden werden, um die Krise zu überwinden und das zwangsläufig gemeinsame Schicksal im Interesse aller europäischen Bürger zu schmieden.
Zum Autor: Francesco A. Schurr ist deutscher und italienischer Staatsbürger. Er ist seit 2019 Inhaber des Lehrstuhls für Italienisches Privatrecht und Rechtsvergleich und Leiter des Instituts für Italienisches Recht an der Universität Innsbruck sowie Rechtsanwalt in München und Bozen.
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