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Hauptstadt: Wie aus der Bonner Blase eine Berliner Blase geworden ist

Hauptstadt

Wie aus der Bonner Blase eine Berliner Blase geworden ist

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    Das Regierungsviertel in Berlin ist ein Paralleluniversum aus Sichtbeton, das in atemberaubendem Tempo um sich selbst kreist.
    Das Regierungsviertel in Berlin ist ein Paralleluniversum aus Sichtbeton, das in atemberaubendem Tempo um sich selbst kreist. Foto: Kay Nietfeld, dpa

    Berlin, was haste dir verändert. Mein erster Arbeitstag als Korrespondent beginnt am 2. August 1999 mit einem Bericht aus dem Innenleben der SPD. Peter Struck, ihr Fraktionsvorsitzender im Bundestag, hat gerade vorgeschlagen, Steuervorteile im Wert von 100 Milliarden Mark zu streichen und Einkommen nur noch mit drei Sätzen zu besteuern: 15, 25 und 35 Prozent. Die Parteilinke ist auf den Barrikaden, doch Struck hält tapfer dagegen. Lange vor dem CDU-Mann Friedrich Merz mit seinem Bierdeckel hat er erkannt, dass es so nicht weitergehen kann in Steuerdeutschland mit seinen immer höheren Steuern und seiner ausufernden Steuerbürokratie.

    Und heute? Heute zieht ein Kanzlerkandidat der SPD mit der Forderung nach höheren Steuern in den Wahlkampf.

    Berlin ist eine Stadt voller Widersprüche

    Berlin, was haste dir verändert. Zwei Tage nach dem Aufschlag von Struck berichten wir aus unserem Hauptstadtbüro über die Pläne, einen neuen Flughafen für Berlin zu bauen. Obwohl sie die Vergabeverfahren nach einem Rechtsstreit neu aufrollen müssen, sind sich der Bund und die Landesregierungen von Berlin und Brandenburg sicher: Der Zeitplan ist nicht in Gefahr. Baubeginn 2003. Inbetriebnahme 2007.

    Und heute? Mit 13 Jahren Verspätung eröffnet der Flughafen jetzt zwar. Die Kosten aber sind von zwei auf knapp sieben Milliarden Euro gestiegen. Und der Steuerzahler muss noch einmal Geld nachschießen. 300 Millionen. Mindestens.

    Oder hat Berlin sich gar nicht verändert? Nicht erst seit dem Umzug von Regierung und Parlament 1999 ist die Stadt ein einziger Widerspruch. Gefühlt eine Metropole von Weltrang, aber schlechter regiert und verwaltet als manches bayerische Dorf. Eine Stadt voller Kultur und voller Tempo, aber eben auch eine Stadt, die für bald vier Millionen Einwohner nur zwei Kfz-Zulassungsstellen eingerichtet hat und ihre Bürger Monate auf einen Termin für das Ausstellen eines Passes warten lässt. Diese Stadt ist nicht repräsentativ für Deutschland, aber sie repräsentiert Deutschland.

    Ein Paralleluniversum aus Sichtbeton, das in atemberaubendem Tempo um sich selbst kreist

    Von den mehr als 20 Jahren, in denen Berlin jetzt wieder Regierungssitz ist, habe ich mehr als 17 Jahre als Korrespondent miterlebt. Heute, mit fast 600 Kilometern Abstand, fällt mein Blick auf die Berliner Republik allerdings um einiges ernüchterter aus als in ihren wilden Anfangsjahren. Eines ihrer zentralen Versprechen jedenfalls hat sie nicht eingelöst. Raus aus der Bonner Behaglichkeit, rein in das Leben einer Großstadt mit all ihren Brüchen und Verwerfungen: In Berlin sollte die Politik näher an den Menschen und ihren Problemen sein – tatsächlich ist sie nur von einer Stadt in eine andere gezogen.

    Abgeordnete, Lobbyisten und Journalisten begegnen sich jetzt eben in Berlin-Mitte, einem Paralleluniversum aus Sichtbeton, das in atemberaubendem Tempo um sich selbst kreist. Aus der Bonner Blase ist eine Berliner Blase geworden – und eine neue Blase ist hinzugekommen: die Twitter-Blase. In dieser Erregungsmaschine den Überblick zu behalten, zwischen Wichtigem und vermeintlich Wichtigem zu trennen, ist nicht nur für uns Journalisten eine ständige Herausforderung.

    Die sozialen Medien haben auch die Politik verändert – und die Politiker gleich mit. Das geschickte Vermarkten seiner selbst ist heute keine Sekundärtugend mehr, sondern erste Abgeordnetenpflicht. Mit Facebook, Twitter und Instagram alleine kann man keine Wahl gewinnen, aber ohne digitale Präsenz kann man sie schnell verlieren.

    Die Politik ist erklärungsbedürftiger geworden

    Kommunikation ist alles in der Berliner Republik, selbst die kommunikativ eher zurückhaltende Kanzlerin hat inzwischen ihren eigenen Podcast. Und seien wir ehrlich: Die Politik ist auch erklärungsbedürftiger geworden. In der Bonner Republik waren die Lager noch sauber getrennt, auf der einen Seite Konservative und Liberale, auf der anderen Sozialdemokraten und Grüne – Parteien, die verortbar und unterscheidbar waren.

    In Berlin sind die Konturen immer weiter verschwommen. Ist die CDU heute nicht die bessere SPD? Sind die Grünen womöglich die wahren Konservativen? Und macht es eigentlich noch einen Unterschied, ob Armin Laschet Kanzler wird, Olaf Scholz oder Robert Habeck? Ein Wahlkampf wie 1976: unvorstellbar heute. Damals ließ die Union noch den polarisierenden Slogan "Freiheit statt Sozialismus" plakatieren.

    Berlin hat sich verändert, ja – aber Deutschland noch viel mehr.

    Zu Bonner Zeiten war die Welt noch übersichtlich in Gut und Böse geteilt. Heute sitzt Europa zwischen allen Stühlen. Hier die USA, die nicht mehr gewillt sind, den Weltpolizisten zu spielen – dort das immer fordernder auftretende China und ein Russland, das seinen Platz in der neuen Weltordnung noch sucht. All das hat, natürlich, Folgen für die Berliner Politik und die Berliner Republik.

    In Berlin sind die Konturen heute deutlich verschwommener.
    In Berlin sind die Konturen heute deutlich verschwommener. Foto: Kay Nietfeld, dpa

    Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hat Deutschland zum ersten Mal gespürt, was es heißt, mehr Verantwortung zu übernehmen, weil unsere Freiheit von der Bundeswehr notfalls auch am Hindukusch verteidigt werden muss – auch das, das nur nebenbei, ein Satz des längst verstorbenen Peter Struck. Deshalb hinken alle Vergleiche mit den Bonner Jahren, auch die in diesem Text. Berlin hat sich verändert, ja – aber Deutschland noch viel mehr.

    Zum Besseren? Joachim Gauck zumindest ist skeptisch. Im vergangenen Jahr haben mein Kollege Stefan Lange und ich uns zu einem langen Gespräch mit ihm in Berlin getroffen, aus dem seine große Sorge sprach, Deutschland könnte in den Auseinandersetzungen um die Migration und den Klimawandel seine Fähigkeit zum Dialog verlieren: "Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben", sagte der frühere Bundespräsident da, "in der wir Progressiven uns untereinander bestens verstehen und verständigen, die Grenzen des Machbaren und des Sagbaren abstecken und alle anderen für Demokratiefeinde oder gar Halbfaschisten halten." An diesem Befund hat sich bis heute nichts geändert.

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