Rechtschreibfehler, mangelndes Fachwissen, Probleme beim Verständnis von Texten. Wer mit Lehrern spricht, hört solche Klagen schon seit längerem. Für viele Pädagogen steht fest: Das Niveau am Gymnasium hat nachgelassen. Doch der Notenschnitt der Abiturienten hat sich seit 2000 kaum verändert, er lag stets bei rund 2,3. Der Anteil der Abiturienten ist in dieser Zeit gestiegen, von 19,6 Prozent der gleichaltrigen jungen Leute in Bayern im Jahr 2000 auf 28,5 Prozent im Jahr 2015. Wirkt das nicht so, als würden die Schüler eher besser als schlechter?
Wer Pädagogen fragt, hört oft ein klares Nein. Lehrer eines Gymnasiums im Münchner Umland haben unter anderem im Gespräch mit unserer Zeitung angeprangert, das Gymnasium verkomme zu einer verkappten Gesamtschule. Sie glauben, dass viele Schüler in anderen Schularten besser aufgehoben wären. Doch gerade in städtischen Gebieten sei nur das Gymnasium wirklich anerkannt.
Warum gibt es immer mehr Gymnasiasten?
Kann es sein, dass das Bildungsniveau derart gestiegen ist, dass immer mehr Menschen die höchste Schulart besuchen? Fritz Schäffer unterrichtet an einem Ingolstädter Gymnasium und leitet die Abteilung Schul- und Bildungspolitik beim Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV). Er sagt Ja – „und das ist gut so“. Denn damit steige auch die gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe und mehr Menschen legten beispielsweise Wert auf gesunde Ernährung. Bildung sei nicht statisch. „Die Leute werden eben doch klüger, wenn man sie besser unterrichtet.“
Dem stehen Erfahrungen einiger Lehrer entgegen. Gerade mit dem 2004 eingeführten Schulsystem G8, das wohl bald wieder verändert wird, habe sich das Niveau verschlechtert. Christian Schulz hat bis zu seiner Pensionierung vor zwei Jahren Deutsch, Geschichte und Sozialkunde unterrichtet. Er erinnert sich noch gut an die erste Abiturprüfung von G8-Schülern, die er korrigiert hat: „Das war einfach zum Weinen.“ Rechtschreibung und andere Bereiche seien oft mangelhaft. Das, vermutet Schulz, liege an der inzwischen stärkeren Gewichtung mündlicher Noten. Wer Rechtschreibung oder Grammatik nicht ausreichend beherrsche, könne sich leichter mit mündlichen Leistungen retten. Zudem ist das Deutschabitur im G8 verpflichtend, im früheren System G9 konnten Schüler diese Prüfung vermeiden.
Nicht nur in Deutsch müssen angehende Abiturienten reihenweise in die mündliche Nachprüfung, um ihr Abitur zu retten. Zwar versuchten sich auch früher etliche Schüler an der Zusatzprüfung. Denen sei es aber häufig darum gegangen, ihren Notenschnitt zu verbessern, erinnert sich Schulz. Inzwischen stehe meistens das Abitur auf dem Spiel. Zahlen des bayerischen Kultusministeriums zu den mündlichen Nachprüfungen gibt es nicht.
Oft mangelt es bereits am Textverständnis
Probleme erkennen Lehrer nicht erst in den Abschlussprüfungen. Stefan Mandl, der Biologie und Chemie unterrichtet, stößt in schriftlichen Arbeiten auf wahllose und unsortierte Argumente. Das Prüfen von Fachwissen werde erschwert: „Das Problem ist, dass oft schon das Textverständnis fehlt.“ Dabei liegen gerade solche Fähigkeiten im Fokus. An bayerischen Gymnasien soll kompetenzorientiert gearbeitet werden. Einzelne Kompetenzen wie das Leseverstehen werden einzeln geübt, getestet und bewertet. Während Schüler in Tests früher vor allem ihr Fachwissen beweisen mussten, bekommen sie heute zum Beispiel Aufgaben, bei denen sie einen Teil der Antworten aus einem beigefügten Text oder auch aus einer Grafik filtern müssen. Doch nach Mandls Erfahrung gelingt es den Schülern häufig nicht, die einzelnen geübten Kompetenzen zusammenzuführen. Der Lehrer kritisiert auch, dass das Fachwissen wegen der Kompetenzorientierung im Vergleich zu früher an Bedeutung verloren hat.
Mandls Kollegin Eyleen Schneider, die Mathematik und Physik unterrichtet, kritisiert die Probleme durch die großen Leistungsunterschiede der Schüler. Sie sagt: „Die guten leiden unter dem System.“ Oft müsse der Lehrer eine Entscheidung treffen: Soll er den schwachen helfen, die guten fördern oder Unterricht für den Durchschnitt der Klasse machen? Manche Schulen versuchen, die Unterschiede aufzufangen. Beispielsweise werden für die beiden höchsten Klassen Q11 und Q12 leistungsdifferenzierte Mathekurse angeboten. „Ich kann meinen Unterricht besser fokussieren“, sagt Lehrerin Eyleen Schneider, die einen solchen Kurs unterrichtet.
Fachwissen verliert an Bedeutung
Lehrervertreter Schäffer dagegen glaubt, dass sich die Lehrer irren, die das sinkende Niveau der Schüler kritisieren: „Da ist sehr viel verzerrte Wahrnehmung und sehr viel Idealisierung der Vergangenheit mit im Spiel“, sagt er. Leistungsunterschiede etwa habe es immer gegeben. Schäffer, selbst Deutschlehrer, beobachtet zwar auch, dass die sprachlichen Fähigkeiten der Schüler nachlassen. Dafür beherrschten die Schüler heute andere Dinge wesentlich besser als frühere Generationen. Außerdem gebe es inzwischen mehr Gymnasiasten, deren Eltern mit einer anderen Sprache als Deutsch aufgewachsen seien.
Dass das Fachwissen an Bedeutung verliert, hält Schäffer nicht für problematisch. Es werde zum größten Teil sowieso wieder vergessen. Er hält Kompetenzen, die in realen Lebenssituationen helfen, für wichtiger. Der Ingolstädter Lehrer plädiert dafür, den Lehrplan zu verschlanken. „Es sind zu viele Inhalte in zu vielen Fächern, die in zu wenig Zeit zu schnell durchgenommen und zu häufig und zu kleinschrittig abgeprüft werden“, sagt er.
In einem sind sich Schäffer und die Kritiker des Niveaus am Gymnasium einig: Der Lehrplan ist zu voll und die Zeit zu knapp, um den Schülern die Chance dazu zu geben, erfolgreicher zu lernen.
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