Im leuchtend pinkfarbenen Kleid sitzt Annalena Baerbock zwischen zwei Journalistinnen der Frauenzeitschrift Brigitte. Es ist der erste öffentliche Auftritt der Kanzlerkandidatin der Grünen, seit der Vorwurf laut geworden ist, dass sich in ihrem Buch "Jetzt. Wie wir unser Land erneuern" etliche Passagen finden, die aus fremden Federn stammen. Ohne dass die Autorin darauf hingewiesen hätte. Viel Privates verrät Baerbock in dem launigen Interview. Dass sie Schokolade am liebsten gekühlt genießt. Dass sie den Schlager „Atemlos“ von Helene Fischer auswendig kann. Dass sie gerne größer wäre. Und deshalb hohe Schuhe trägt. Dann kommt die Frage, aus welchem Fehler sie am meisten gelernt habe.
Baerbock beginnt zu erzählen. Nicht etwa von den jüngsten, selbst verschuldeten Rückschlägen für ihre zunächst so aussichtsreich scheinende Kanzlerinnenkandidatur. Dem aufgehübschten und dann mehrfach geänderten Lebenslauf. Den verspätet dem Bundestag gemeldeten Nebeneinkünften in fünfstelliger Höhe. Auch nicht von ihrem Buch, das ins Visier eines österreichischen Plagiatsjägers geraten ist. Ihren größten Fehler, berichtet die 40-Jährige, habe sie gemacht, als sie noch Schülerin war und als Leistungsturnerin einem wichtigen Wettkampf entgegenfieberte. Obwohl sie kränkelte, ging sie trotzdem zum Training, obwohl die Mutter abriet. Ein Trampolinsprung sei missglückt, ein Trümmerbruch nach der Landung auf dem harten Hallenboden die Folge gewesen. „Das war es mit der deutschen Meisterschaft“, sagt Baerbock. Einen großen Sieg habe sie danach im Sport nie mehr errungen.
Grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock äußert sich zu Plagiatsvorwurf
Doch kann der gebürtigen Niedersächsin nach ihrer peinlichen Pannenserie noch ein Sieg bei der Bundestagswahl gelingen? Natürlich wird Baerbock dann doch auf die Plagiatsvorwürfe angesprochen. Sie weist sie zurück. „Ganz viele Ideen von anderen sind mit eingeflossen“, sagt sie. „Aber ich habe kein Sachbuch oder so geschrieben, sondern das, was ich mit diesem Land machen will – und auf der anderen Seite die Welt beschrieben, wie sie ist, anhand von Fakten und Realitäten.“ Weil es eben kein Sachbuch sei, habe sie auch keine Fußnoten gesetzt. Sie klagt, dass über sie viele Falschbehauptungen im Umlauf seien, warnt vor einem Wahlkampf wie in den USA, wo Wahrheit und Unwahrheit gefährlich vermischt würden.
Es gibt wohl kaum einen Grünen-Politiker, der Baerbocks Auftritt am Donnerstagabend nicht verfolgt. Doch ob ihr der erhoffte Befreiungsschlag gelungen ist, darüber gehen die Meinungen danach auseinander. Wie es überhaupt unterschiedliche Ansichten gibt über den Umgang mit der Angelegenheit. Dass einige Passagen aus dem Baerbock-Buch auffällig bestimmten Texten aus Zeitungen, Magazinen oder Fachpublikationen ähneln, räumen Mandatsträger und Funktionäre der Partei in Gesprächen durchaus ein, wenn auch hinter vorgehaltener Hand. Doch die Vorwürfe seien „Lappalien“, es handle sich mitnichten um Urheberrechtsverletzungen. Das sagt ein Mitglied der Grünen-Bundestagsfraktion, das allerdings auch von einer „haarsträubenden Steilvorlage für den politischen Gegner“ spricht. Offenbar laufe Baerbocks Wahlkampfmaschinerie noch nicht rund.
Läuft gegen Annalena Baerbock eine gezielte Hetzkampagne?
Andere Gesprächspartner aufseiten der Grünen sehen allenfalls lässliche eigene Fehler, dafür aber eine Schmutzkampagne, wenn nicht gar eine Art Verschwörung feindlicher politischer Kräfte. Wasser auf ihre Mühlen ist ein Bericht des Nachrichtenportals T-Online. In dem Beitrag wird der bekannte Plagiatsjäger Martin Heidingsfelder zitiert, der gegen Bezahlung Lebensläufe oder Doktorarbeiten von bekannten Persönlichkeiten auf Fehler untersucht. Im Mai habe ihn ein „Bekannter“ angerufen, dessen Identität nicht preisgegeben wird, der aber früher bei der SPD gewesen und nun eher rechts stehen soll. Der Anrufer habe Heidingsfelder überzeugen wollen, bei einer Kampagne gegen Baerbock mitzumachen. Er habe angedeutet, es gehe nicht gegen die Grünen insgesamt, sondern darum, dafür zu sorgen, dass Kanzlerkandidatin Baerbock gegen ihren Mit-Parteivorsitzenden Robert Habeck ausgetauscht werde.
Sinngemäß, so habe der mysteriöse Strippenzieher laut Heidingsfelder behauptet, sei dies besser für die Grünen, denn gegen Baerbock könnten weitere Vorwürfe nachkommen. Als Heidingsfelder abgelehnt habe, gegen Baerbock zu arbeiten, habe der Anrufer um Verständnis gebeten, dass er sich dann an Stefan Weber wenden würde. Der Salzburger Medienwissenschaftler Weber hatte etwa der österreichischen Arbeitsministerin Christine Aschbacher Fehler in ihrer Doktorarbeit nachgewiesen. Sie trat daraufhin zurück. Heidingsfelder vermutet, dass Weber nun im Auftrag des ominösen Anrufers das Buch von Annalena Baerbock unter die Lupe genommen hat.
Grüne sprechen von "Rufmord" und "Schmierenkampagne"
Weber bestreitet dies energisch, er hat an Eides statt versichert, dass er ohne „Bezahlauftrag“ handle. Inzwischen hat Weber seine Vorwürfe gegen Baerbock sogar noch ausgeweitet. Sie habe nicht nur beim Nachrichtenmagazin Spiegel, bei der Zeitung Tagesspiegelund beim amerikanischen Politikwissenschaftler Michael T. Klare abgekupfert, sondern sich auch aus der Zeitung taz und einem Gastbeitrag ihres Parteifreunds Jürgen Trittin bedient.
So laut in den Reihen der Grünen der angebliche „Rufmord“ und eine „Schmierenkampagne“ auch beklagt wird, so richtet sich der Blick doch zunehmend auch nach innen. Wer ist dafür verantwortlich, dass die glänzend gestartete Baerbock-Kampagne ins Stottern geraten ist? Woran liegt es, dass nun plötzlich mehr über die Fehler der Kandidatin diskutiert wird, als über das stark vom Klimaschutz geprägte Wahlprogramm? Über mögliche Schuldige wird viel getuschelt, je nach Standpunkt werden unterschiedliche Personen genannt. Es scheint, als habe die große Einigkeit, die bislang als Grund für den Höhenflug der einst so zerrissenen Partei genannt wurde, Risse bekommen.
Kanzlerkandidatin Baerbock setzt auf "inneren Zirkel"
Baerbock habe zuletzt weniger auf die bewährten Parteistrukturen gesetzt, sondern einen „inneren Zirkel“ um sich geschart. Dem sollen etwa ihr Ehemann, der Lobbyist und Ex-Parteistratege Daniel Holefleisch angehören, der an mehreren Grünen-Wahlkämpfen beteiligt war, sowie Wahlkampfsprecher Andreas Kappeler. Für den Geschmack eines Eingeweihten setzt die Kandidatin zudem zu sehr auf ihr Bundestagsbüro, das es etwa versäumt habe, ihre Nebeneinkünfte rechtzeitig zu melden und auch für das Hickhack um ihren Lebenslauf verantwortlich sei. Im neu gegründeten Wahlkampfteam treffen selbstbewusste Profi-Werber, namhafte PR-Experten, die stolz auf ihre Erfolge in der Wirtschaft verweisen, auf langjährige Parteifunktionäre.
Wer den Hut aufhat, wer für was zuständig ist, das sei nicht immer klar, das Zusammenspiel klappe noch nicht an allen Stellen reibungslos, heißt es. Gleichzeitig habe sich gezeigt, dass die Herausforderungen beim ersten ernsthaften Anlauf auf Kanzleramt um ein Vielfaches größer seien, als in früheren Wahlkämpfen.
Anders als Robert Habeck galt Baerbock als faktensicher
Bundesgeschäftsführer Michael Kellner, der den jüngsten Aufstieg der Grünen mit straffer Organisation erst ermöglicht habe, sei zuletzt stark mit dem Parteiprogramm beschäftigt gewesen. Es galt zu verhindern, dass über die zahllosen Änderungsanträge der Mitglieder Positionen ins Papier kommen, die die heftig umworbenen Wähler aus der bürgerlichen verschreckt hätten. Das ist Kellner gelungen. Doch die Gefahr, die sich in Baerbocks Buch versteckte, hatte offenbar auch er nicht im Blick, der mit seinem Team sonst jede Äußerung aus der Parteispitze akribisch geprüft und auf mögliche Angriffspunkte abgeklopft hat.
Das größere Augenmerk lag dabei dem Vernehmen nach auf Robert Habeck. Dem Schriftsteller und Philosophen waren immer wieder Peinlichkeiten passiert. In Sachen Pendlerpauschaler zeigte er sich nicht sattelfest und hoffte vor der Wahl in Thüringen, dass dort bald wieder Demokratie einkehren möge. Obwohl seine Partei an der Regierung in Erfurt beteiligt war. Baerbock dagegen galt als faktensicher. Wo sie dennoch Fehler machte, übernahm sie bisher die Verantwortung. Auf ihre Fehlerkultur sind die Grünen stolz. Doch die Strategen wissen auch, das sich öffentliche Schuldeingeständnisse nicht zu sehr häufen dürfen. Sonst entsteht der Eindruck der Unprofessionalität. So greifen die Grünen im Buch-Affärchen auf eine Strategie zurück, die so alt sein dürfte, wie die Politik selbst: Die Vorwürfe scharf zurückweisen und hoffen, dass sie irgendwann ausgesessen sind.