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Großbritannien: Was wirklich beim Attentat in London geschah

Großbritannien

Was wirklich beim Attentat in London geschah

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    Polizei am Tatort eines Vorfalls auf der London Bridge im Zentrum Londons.
    Polizei am Tatort eines Vorfalls auf der London Bridge im Zentrum Londons. Foto: Dominic Lipinski/PA Wire/dpa

    Es dauerte nur wenige Stunden, bis der Anschlag in London von der Politik vereinnahmt wurde. Da half es auch nicht, dass sich der Vater des 25-jährigen Jack Merritt, eines der beiden Opfer, am Wochenende zu Wort meldete und seinen Sohn als "Champion der Underdogs" und "wunderbare Seele" pries, "die sich immer auf die Seite der Schwächeren gestellt hat". Jack hätte nicht gewollt, "dass sein Tod als Vorwand dafür missbraucht wird, noch drakonischere Gefängnisstrafen zu verhängen oder Menschen unnötig einzusperren", sagte der Vater. Doch da hatte Premierminister Boris Johnson bereits härtere Maßnahmen und eine Verschärfung der Gesetze gefordert. Man solle Terroristen einsperren und den Schlüssel wegwerfen, meinte der konservative Regierungschef im Kampagnen-Modus am Sonntag in der Sunday Times.

    Es herrscht Wahlkampf auf der Insel. Am 12. Dezember bestimmen die Briten ein neues Parlament. Johnson und Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn wetteifern, wer mehr Stärke, wer eine härtere Hand im Kampf gegen den Terrorismus demonstrieren kann. Die berührenden Worte des trauernden Vaters gingen im Getöse und Gestreite unter.

    Am Freitagnachmittag hatte der 28-jährige Brite Usman Khan zwei Menschen mit einem Messer getötet und drei weitere verletzt. Ausgerechnet ein Mann, der 2012 wegen Terrordelikten verurteilt worden war. Ein Mann, der vorzeitig auf Bewährung entlassen worden war und seit Dezember 2018 eine elektronische Fußfessel getragen hatte.

    Attentat in London: Briten sind geschockt

    Wie konnte das passieren? Das Justizsystem im Königreich muss sich unangenehme Fragen gefallen lassen. Die Umstände klingen makaber: Khan nämlich befand sich vor der Attacke auf einer Konferenz zum Thema Resozialisierung von Ex-Häftlingen in der Fishmongers’ Hall, einem Gebäude der Londoner Fischergilde. Dort stach er nach dem Mittagessen unvermittelt und wahllos auf Teilnehmer und Organisatoren der Veranstaltung ein. Jack Merritt, ein Mitarbeiter der Kriminologie-Abteilung der Cambridge-Universität, betreute das Rehabilitationsprogramm und leitete das Seminar "Zusammen lernen" am Freitag. Neben ihm verlor eine Frau ihr Leben, deren Identität noch nicht bekannt gegeben wurde.

    Die Briten sind geschockt über die Tat und die Hintergründe – und huldigen gleichzeitig "Helden", die den Attentäter auf seiner Flucht über die nahe gelegene London Bridge überwältigten, bevor er von einem Sonderkommando der Polizei erschossen wurde. Videos von Passanten zeigen, wie mehrere Männer Khan zusetzten, etwa der polnische Koch Lukasz, ein Augenzeuge aus der Fishmongers‘ Hall. Er hatte einen zur Dekoration angebrachten, anderthalb Meter langen Stoßzahn eines Narwals von der Wand gerissen und ging mit diesem auf den Attentäter los. Ein weiterer Mann besprühte Khan mit dem Schaum eines Feuerlöschers. Andere rangen den Terroristen zu Boden, obwohl er eine Art Sprengstoffgürtel trug, der sich später als Attrappe entpuppte. Ein Polizist in Zivil konnte Khan das große Messer entreißen.

    Unmittelbar nach der Tat hinderten mehrere Männer den mutmaßlichen Terroristen von London daran, weitere Morde zu begehen. Die Polizei erschoss den Attentäter schließlich.
    Unmittelbar nach der Tat hinderten mehrere Männer den mutmaßlichen Terroristen von London daran, weitere Morde zu begehen. Die Polizei erschoss den Attentäter schließlich. Foto: Uncredited/@HLOBlog/AP, dpa

    Die Terrorgruppe "Islamischer Staat" teilte mit, für die Messerattacke verantwortlich zu sein. Das Statement aber bedeute nicht, dass es eine direkte Verbindung zwischen Khan und der Organisation gebe, schränkte der Terror-Experte Peter Neumann vom Londoner King’s College ein. Der IS versuche seit einiger Zeit, "sogenannte einsame Wölfe zu inspirieren", um dann die Taten für sich zu reklamieren.

    Während für westliche Staaten potenzielle Terroristen lange Zeit "Unbekannte" waren, besteht laut Neumann heute und in naher Zukunft die Herausforderung darin, jene möglichen Terroristen zu entdecken, die den Behörden im Grunde bekannt sind. Häftlinge, Rückkehrer, Dschihadisten-Veteranen, bedingt aus der Haft entlassene Täter – viele der in den letzten Jahren verhafteten Dschihadisten kämen in den nächsten zwei bis drei Jahren wieder frei, in Frankreich etwa über die Hälfte, so Neumann.

    Corbyn fordert "vollständige Untersuchung"

    Boris Johnson forderte, Terroristen sollten mindestens 14 Jahre hinter Gittern verbringen. Es ergebe "keinen Sinn, wenn Menschen, die wegen terroristischer Straftaten verurteilt wurden, vorzeitig entlassen werden", sagte der Premier, der in Wahlumfragen deutlich vor Corbyn liegt. Der Oppositionschef kritisierte die Regierung und verlangte eine "vollständige Untersuchung". Die Umstände der vorzeitigen Entlassung des Terroristen seien ein "komplettes Desaster".

    Khan war 2012 gemeinsam mit acht weiteren Tätern zunächst zu einer Mindesthaftstrafe von acht Jahren verurteilt worden. Die Gruppe hatte einen Bombenanschlag auf die Londoner Börse geplant. Ein Berufungsgericht hob die Urteile gegen Khan und zwei Mittäter im April 2013 auf und verhängte gegen den jetzigen Attentäter eine Freiheitsstrafe von 16 Jahren. Dem Londoner Polizeisprecher Neil Basu zufolge wurde der Brite auf Grundlage einer "umfangreichen Liste von Auflagen" freigelassen, an die er sich zunächst gehalten habe.

    Lesen Sie dazu auch: Terror in London: Richter hatte vor dem Attentäter gewarnt

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