Beunruhigt wirkte Boris Johnson keineswegs, als er sich am Donnerstag vor die Kameras an der Themse in London vor einem Schiff stellte, um die jüngsten Rückschläge seiner erst kurzen Amtszeit zu kommentieren. Doch die Nervosität in der Downing Street dürfte zunehmen. Denn das Vereinigte Königreich ist nicht ausreichend auf einen ungeordneten Austritt aus der EU vorbereitet.
Das jedenfalls geht aus dem sogenannten „Yellowhammer“-Dokument hervor, das die britische Regierung auf Druck des Parlaments am Mittwochabend veröffentlicht hat. Bereits vor einigen Wochen wurden Inhalte des Papiers an Medien geleakt. Seitdem haben sich zwar die düsteren Prognosen kaum geändert, dafür aber der Titel. Überschrieben hat die Regierung das sechsseitige Dokument, benannt nach einem Vogel: der unschuldigen gelben Goldammer. Doch das Beunruhigende ist, dass es sich bei dieser Analyse vor kurzem noch um ein „grundlegendes Szenario“ handelte – jetzt geht es um „Planungsmaßnahmen für den schlimmsten Fall“.
Sind die möglichen Folgen eines No-Deal-Brexit lediglich eine Frage der Formulierung? Die Analyse ist jedenfalls der jüngste Aufreger auf der Insel: Laut Report drohen bei einer Scheidung ohne Vertrag und ohne Übergangsphase Engpässe bei Lebensmitteln, Benzin und Medikamenten aufgrund des Staus auf den Handelswegen durch den Ärmelkanal. Ein Fanal ist, dass es in Großbritannien verstärkt Hamsterkäufe gibt. Spediteure müssten wegen der Zollkontrollen mit massiven Verzögerungen rechnen, die Hafen-Behörden warnen vor Störungen und Chaos. Und zwar nicht für die ersten Tage nach dem EU-Austritt, sondern über viele Monate hinweg.
Nach dem Brexit langwierige Grenzkontrollen
Darüber hinaus warnen die Experten vor landesweiten Protesten und Störungen der öffentlichen Ordnung. Dies würde eine „erhebliche Menge“ an Polizeikräften in Anspruch nehmen. Britische Bürger könnten härteren Einwanderungskontrollen an EU-Grenzen ausgesetzt werden und auf hoher See erwarten die Verfasser des Papiers Auseinandersetzungen zwischen britischen Fischern und den Konkurrenten aus EU-Mitgliedstaaten. Außerdem würde ein No-Deal zu einer Art harten Grenze zwischen der zum Königreich gehörenden Provinz Nordirland und der Republik Irland führen.
Die Regierung versuchte auf allen Kanälen zu beruhigen: Es handele es sich bei den Vorhersagen lediglich um ein Worst-Case-Szenario und nicht um eine Prognose der wahrscheinlichen Entwicklung. Die Opposition dagegen schäumte. Die Vorbereitungen erinnerten mehr an Planungen für „einen Krieg oder eine Naturkatastrophe“, hieß es von Labour. Johnson solle das Parlament aus der Zwangspause zurückholen, um sich den Fragen der Abgeordneten zu stellen, forderten etliche Politiker. „Es ist vollkommen verantwortungslos, dass die Regierung versucht hat, diese schonungslosen Warnungen zu ignorieren und die Öffentlichkeit davon abhalten wollte, die Beweise zu sehen“, sagte Keir Starmer, Brexit-Minister in Labours Schattenkabinett. Johnson müsse jetzt zugeben, dass er das britische Volk über die Konsequenzen eines ungeordneten Brexit belogen habe. Das Unterhaus hatte am Montag, kurz vor Beginn der von Johnson auferlegten fünfwöchigen Suspendierung des Parlaments, die Herausgabe aller Dokumente zur No-Deal-Planung, Code-Name „Operation Yellowhammer“, durchgesetzt.
Leere Regale in den britischen Supermärkten?
Der Premier versicherte derweil, in den vergangenen Monaten und insbesondere während seiner nunmehr 50 Tage im Amt habe man die Vorbereitungen beschleunigt. Er zeigte sich „sehr hoffnungsvoll“, dass sich London und Brüssel während des EU-Gipfels am 17./18. Oktober auf einen Deal einigen werden. „Aber wenn wir am 31. Oktober ohne Abkommen austreten, werden wir bereit sein.“
Die Sorgen nehmen jedoch zu. So quellen die Medien über mit eindringlichen Warnungen von Experten aus allen möglichen Bereichen: Supermarktchefs reden von der Wahrscheinlichkeit, dass viele Regale in der Obst- und Gemüseabteilung leer bleiben könnten aufgrund von Lieferschwierigkeiten. Mediziner fürchten, dass lebenswichtige Medikamente, die nicht gelagert werden können, nicht rechtzeitig die Insel erreichen. Vertreter aus der Automobilindustrie sprechen bei einer Einführung von Zöllen von spürbar steigenden Preisen.
Das Land ist weiterhin im Krisenmodus. Der aktuelle Brexit-Termin am 31. Oktober rückt unaufhaltsam näher. Doch Premierminister Boris Johnson betont unaufhörlich, dass er nicht, wie vom britischen Parlament via Gesetz aufgetragen, um eine Verschiebung der Frist in Brüssel bitten will.
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