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Großbritannien: Brexit: Und auf einmal ist Großbritannien ein anderes Land

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Brexit: Und auf einmal ist Großbritannien ein anderes Land

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    Geteiltes Land beim Brexit: Die einen sind schockiert, die anderen fassungslos.
    Geteiltes Land beim Brexit: Die einen sind schockiert, die anderen fassungslos. Foto: Rob Stothard/Geoff Caddick, afp

    Es ist wirklich passiert. Kurz vor sechs Uhr. Noch bevor Big Ben, die berühmteste Turmuhr der Welt, den Morgen begrüßen wird, hallt, wenn man so will, ein anderer, ein folgenschwererer Glockenschlag über die Insel. Einer, der die ganze Nation aufweckt. Das Vereinigte Königreich verabschiedet sich aus der Europäischen Union. Den Brexit gibt es zum Frühstück.

    Was für ein Morgen. Was für Ereignisse. Was für Emotionen. Premierminister David Cameron kündigt seinen Rücktritt an. In den Ministerien eilen Regierungsangestellte wie Geister durch die altehrwürdigen Gänge. Das Pfund ist schon vorher krachend abgestürzt. Labour-Abgeordnete fordern den Abgang ihres Chefs Jeremy Corbyn. In Krisentreffen suchen europafreundliche Politiker Zuflucht. In Talkshows suchen europafeindliche Politiker Applaus.

    Was geschieht da gerade?

    Panik und Jubel wechseln sich in den sozialen Medien ab. Twitter und Facebook kennen nur ein Thema. Während auf der einen Seite die Sieger die „Demokratie und Souveränität feiern“, äußert sich auf der anderen die Sprachlosigkeit der Verlierer in stammelnden Sätzen. Die Reporter versuchen ob des Unfassbaren die Fassung zu bewahren. „Es wird Geschichte geschrieben“, sagt eine Journalistin etwas hilflos in ihr Mikrofon.

    Auf den Straßen Londons, Liverpools und Birminghams kommen außergewöhnlich viele Menschen zusammen und wedeln mit Union-Jack-Flaggen. „Wir haben unsere Souveränität zurück“, ruft ein Mann mittleren Alters im Freudentaumel. Er trägt ein „Leave“- T-Shirt. Eine Passantin, sie ist 27 und heißt Katrina, bleibt stehen, holt tief Luft und schreit voller Wut: „Ihr zerstört unsere Zukunft.“ Der Ärger prallt am britischen Jubel ab. Katrinas Begleiter tätschelt wie zur Beruhigung ihre Wange. „Das ist eine Katastrophe, und vielleicht wache ich morgen aus diesem Albtraum auf“, flucht Lucy Hann. Die 35-Jährige sitzt in einem Londoner Café und starrt wie gebannt auf den Fernsehschirm, auf dem immer wieder „UK votes Out“ aufblitzt.

    Der Vorabend hat aus Sicht der Europa-Anhänger noch hoffnungsvoll begonnen. Mit optimistischen Umfragen. Und mit Gibraltar, dem ersten von 382 Wahlbezirken: 19322 für „In“, 823 für „Out“. Ein Gast einer EU-freundlichen Wahlveranstaltung lacht da noch aufgrund des nicht-repräsentativen Ergebnisses in dem Überseegebiet. Die Überraschung sei doch, scherzt er, dass 823 Menschen für den Brexit gestimmt haben.

    Brexit: David Cameron verkündet seinen Rücktritt

    Dann in der Nacht bekommen die Brexit-Anhänger zunehmend Oberwasser. Nur Schottland, Nordirland und die Hauptstadt London halten mehrheitlich dagegen. Am Ende lacht keiner mehr im Lager der EU-Freunde. 51,9 Prozent stimmen für den Austritt, nur 48,1 Prozent dagegen. Trotz der besseren wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Argumente, und obwohl die Pro-EU-Kampagne mehr Geld und eine bessere Infrastruktur vorweisen konnte. Auch hatte sie mehr Prominente, Unternehmer, Abgeordnete aller Parteien und von Barack Obama bis zu Angela Merkel die wichtigsten Staatschefs der Welt auf ihrer Seite.

    Es hat nichts geholfen in einem Wahlkampf, der von Beleidigungen, persönlichen Angriffen und garstigen, teils bitterbösen Tönen bestimmt war. Insbesondere das „Leave“-Lager stand in der Kritik, weil dessen Wortführer und Aktivisten gerne mit falschen Zahlen hantierten, Ängste vor Einwanderern und Kontrollverlust schürten, gefährlich mit Übertreibungen spielten, Horrorszenarien ausmalten und selbst seriösen Experten die Kompetenz absprachen. Ein Sieg der Polemik? Die EU-Freunde sind in der emotional aufgeheizten Debatte mit ihrer Strategie, vor allem vor den Risiken eines Brexit zu warnen, nicht angekommen – auch weil sie selbst keineswegs vor Panikmache zurückschreckten und unter dem Vorwurf litten, ihnen fehle „eine positive Botschaft“.

    Dann, es ist halb neun Ortszeit, tritt David Cameron aus der Tür mit der Nummer 10 und vor die Kameras, begleitet lediglich von seiner Frau Samantha. Ihr Gesichtsausdruck verrät bereits, was kommen wird. Cameron kündigt seinen Rücktritt für den Oktober an. Dann ist Parteitag der Tories. Ein bisschen zu laut und zu schnell wendet er sich an seinem schwarzen Freitag an die Bevölkerung. Er sagt: „Der Wille des britischen Volkes ist eine Anweisung, die befolgt werden muss.“ Nur denke er nicht, dass er „der Kapitän sein sollte, der das Land zu diesem neuen Ziel steuert“. Seine Stimme klingt von Tränen verwässert, als er ansetzt: „Ich liebe dieses Land und ich fühle mich geehrt, ihm sechs Jahre lang als Premierminister gedient zu haben.“

    Was für ein tiefer Fall dieses Mannes, der vor 13 Monaten noch an derselben Stelle stand und voller Stolz den überraschenden Gewinn der absoluten Mehrheit bei der Parlamentswahl feierte. Doch der Tory-Chef erwähnt gestern einen wichtigen Aspekt nicht: Dass es überhaupt ein Referendum gab, hat allein er zu verantworten. Um die rebellischen Europaskeptiker in den eigenen Reihen zu beruhigen, die seit Jahren zumindest eine harte Hand gegenüber Brüssel, aber am liebsten gleich den Austritt aus der Union gefordert hatten, versprach er die Volksabstimmung. Zu mächtig schienen ihm die Stimmen der Hinterbänkler, die ihm seit Beginn seiner Amtszeit auf den Füßen standen. Nun geht er in die Geschichte ein als jener Premier, der, um den Aufstieg der EU-feindlichen Unabhängigkeitspartei Ukip zu bremsen, aber vor allem wegen innerparteilicher Querelen die EU-Mitgliedschaft verzockt hat.

    ---Trennung _Wie geht es nach dem Brexit weiter?_ Trennung---

    Wer wird David Cameron beerben? Seit Wochen im Gespräch, auch weil er sich ständig selbst ins Gespräch bringt, ist Boris Johnson. Der Ex-Bürgermeister Londons und Wortführer der Brexiteers orchestriert am Freitag wie gewohnt seinen Auftritt. Stundenlang harren Reporter vor seinem Londoner Haus aus. Als sich die Tür endlich öffnet, huscht er im Schutz der Polizei schnell ins Auto. Etliche Briten, die gemeinsam mit der Presse auf ihn gewartet haben, beschimpfen ihn als „Abschaum“. Auf der Pressekonferenz wählt er dann mit ruhiger, bestimmter Stimme staatsmännische Worte. „Wir können Europa nicht den Rücken zuwenden, wir sind Teil Europas“, sagt Johnson, dem in den vergangenen Wochen immer wieder Opportunismus vorgeworfen wurde, weil er sich „aus politischem Kalkül“ für das Brexit-Lager entschieden habe.

    Boris, wie die Briten ihn nur nennen, will sich offenbar für das höchste Amt empfehlen. Denn plötzlich sagt er so Dinge wie: „Wir können all jenen, die versuchen, Einwanderung für ihre politischen Zwecke einzusetzen, den Wind aus den Segeln nehmen.“ Die linksliberale Presse meint, sich verhört zu haben. Immerhin war es der eigentlich brillante Rhetoriker Johnson, der mit Hitler-Vergleichen und Attacken auf Barack Obama völlig überdrehte. Noch kurz, bevor die Wahllokale schlossen, hatte er nicht oft genug den „Unabhängigkeits-Tag“ beschwören können, welcher der 23. Juni künftig sein solle. Endlich wieder die Kontrolle zurückerlangen. Über die Grenzen. Die Einwanderer. Gesetze und Vorschriften. Die Wirtschaft. Doch er weiß, seit Freitag muss er sich von den Rechtspopulisten distanzieren, will er in die Downing Street einziehen.

    Und so dürfte seine Äußerung als deutliches Zeichen an Nigel Farage verstanden werden, den Chef der EU-Feinde. Der kann sein Glück kaum fassen und feiert sich schon vom frühen Morgen an als Gewinner. Ukip sei die neue Labour-Partei, stellt er fest.

    Er übertreibt damit natürlich und sticht trotzdem ins Wespennest. „Die Sozialdemokraten haben dieses Referendum entschieden“, sagt Simon Hix, Politikprofessor an der London School of Economics. Jeremy Corbyn, der Labour-Chef, habe keine klare, leidenschaftliche Botschaft aussenden können, sagt er. Der Altlinke hätte die Kritik des „Leave“-Lagers am Establishment einfangen können. Überdurchschnittlich viele ältere Männer unterstützten den Brexit, hinzu kamen weniger gut ausgebildete Briten, die unzufrieden sind, sich zurückgelassen fühlen, Angst vor Immigration, Jobverlust und der Zukunft haben. Doch klassische Labour-Wähler fanden sich in Corbyns Partei nicht mehr wieder. Ein Guardian-Journalist bezeichnet das Votum als „Revolte der Arbeiterklasse“. Die Verlierer der Globalisierung haben die Gewinner überstimmt.

    Beim Brexit stimmten die Älteren über die Zukunft der Jungen ab

    Auf der europafreundlichen Seite stehen mehrheitlich jüngere, wohlhabendere, gebildetere Menschen. Und so überrascht es kaum, dass eine Statistik des Meinungsforschungsinstituts YouGov aufzeigt, wie die Älteren über die Zukunft der Jungen bestimmt haben. Hätten nur die unter 50-Jährigen votiert, wäre das Land in der EU geblieben. Unter den 18- bis 24-Jährigen haben sich sogar 75 Prozent dafür ausgesprochen. Drei von vier jungen Briten hätten sich also eine Zukunft in der Staatengemeinschaft gewünscht. Bei den über 65-Jährigen haben dagegen mehr als 61 Prozent für den Brexit gestimmt. Sie haben das Land aus dem Klub der 28 geführt.

    Das Vereinigte Königreich ist alles andere, als was sein Name vorgibt. „Das Land ist zutiefst gespalten“, sagt Professor Hix, und das nicht nur gesellschaftlich, sondern auch geografisch. Jung gegen Alt. Arm gegen Reich. Urban gegen ländlich. Und eben auch Süd gegen Nord. Denn England hat die Landesteile Schottland und Nordirland überstimmt, die sich beide mehrheitlich für Europa ausgesprochen haben. Nicola Sturgeon, die Vorsitzende der Scottish National Party, spricht denn auch aus, was viele bereits befürchtet haben. Ein zweites Referendum über die Eigenständigkeit Schottlands sei „höchst wahrscheinlich“, nachdem die Autonomiebefürworter im Herbst 2014 die Volksabstimmung verloren.

    Bricht nun das Königreich auseinander? Auch Nordirland macht Druck. So fordert die irisch-nationalistische Partei Sinn Fein eine Abstimmung über eine Wiedervereinigung Irlands. „Was für ein Land wollen wir sein?“, hat am Tag des Referendums der Guardian seine Leser gefragt. Zurzeit weiß das offenbar niemand. Zu groß ist der Jubel auf der einen Seite. Und zu tief sitzt der Schock auf der anderen.

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