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Belarus: Größter Protest seit Zerfall der UdSSR: Die Krawallnacht von Minsk

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Größter Protest seit Zerfall der UdSSR: Die Krawallnacht von Minsk

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    „Lukaschenko, hau ab!“ – nach der offenkundig manipulierten Präsidentschaftswahl gingen geschätzt hunderttausend Belarussen auf die Straße.
    „Lukaschenko, hau ab!“ – nach der offenkundig manipulierten Präsidentschaftswahl gingen geschätzt hunderttausend Belarussen auf die Straße. Foto: -/AP, dpa

    Blutüberströmte Gesichter. Verrenkte Gliedmaßen. Wie leblos daliegende Körper. Und mittendrin: schwer bewaffnete, in Schwarz gehüllte Polizisten der Sondereinheit Omon, die mit Schlagstöcken auf Menschen einprügeln und Blendgranaten zünden. Die Bilder aus der „Blutnacht von Minsk“ verbreiten sich am Tag nach der hoch umstrittenen Präsidentenwahl in Belarus rasant, obwohl die Behörden Nachrichtenkanäle kappen und Internetseiten blockieren. Fast genauso schnell geben Aktivisten der Protestbewegung die Parole aus: „Fortsetzung folgt.“ Sie wollen wiederkommen und weitermachen, wie sie in der Nacht begonnen haben. Sie wollen den Diktator aus dem Amt jagen: „Lukaschenko, hau ab!“

    Laut offiziellem Wahlergebnis in Belarus wurde Lukaschenko mit großer Mehrheit wiedergewählt

    Am Montag nach der Wahl blicken viele Menschen in Belarus gebannt auf das, was da wohl noch kommen möge, in der Nacht auf Dienstag oder im Lauf der nächsten Wochen und Monate. Nur eins interessiert kaum jemanden: das offizielle Wahlergebnis. 80,2 Prozent für Präsident Alexander Lukaschenko, der in Belarus seit 1994 mit diktatorischen Mitteln regiert. So oder so ähnlich haben das ohnehin alle erwartet. „Ein vom Regime bestelltes, gnadenlos gefälschtes Ergebnis“, sagen Vertreter der Opposition und behaupten, in Wirklichkeit habe ihre Kandidatin haushoch gewonnen. „72 Prozent für Swetlana Tichanowskaja“, meldet die Menschenrechtsorganisation Charta 97 unter Berufung auf eigene Nachwahlbefragungen.

    Swetlana Tichanowskaja müsste laut Nachwahlbefragungen der Menschenrechtsorganisation Charta 97 eigentlich die Wahl in Belarus deutlich gewonnen haben.
    Swetlana Tichanowskaja müsste laut Nachwahlbefragungen der Menschenrechtsorganisation Charta 97 eigentlich die Wahl in Belarus deutlich gewonnen haben. Foto: Sergei Grits/AP, dpa

    Eine unabhängige Bestätigung gibt es weder für das eine noch für das andere Resultat. Lukaschenko hat diesmal keine neutralen Beobachter ins Land gelassen, unter Verweis auf die Corona-Pandemie. Tichanowskaja lässt deshalb am Montag wissen: „Es kann keine Anerkennung eines solchen Ergebnisses geben.“ 80 Prozent für Lukaschenko und 9,9 Prozent für sie selbst, wie offiziell verkündet, seien „fern jeder Realität“. Wo sich die 37-Jährige zu diesem Zeitpunkt aufhält, ist unklar. Sie hatte vor dem Wahltag ihre von Militär umstellte Wohnung verlassen und ist im Raum Minsk untergetaucht. Die beiden Kinder hat sie schon vorher in ein sicheres EU-Land geschickt. Ihr Mann Sergei sitzt seit Frühjahr in Haft.

    Drei Frauen schaffen es, dass in Belarus so viele Menschen wie nie auf die Straße gehen

    Die politischen Gefangenen freizubekommen und eine „echte, gerechte Neuwahl“ zu organisieren – das ist Tichanowskajas wichtigster Programmpunkt. Dafür hat sie sich an die Spitze eines Frauentrios gestellt, dem in diesem politisch so heißen Sommer in Belarus die Herzen der Menschen zufliegen. An ihrer Seite stehen Maria Kolesnikowa und Weronika Zepkalo. Die eine ist Managerin des populären Bankers Wiktor Babariko, der ebenfalls im Gefängnis sitzt. Die andere ist Weronika Zepkalo, deren Ehemann Waleri im Moskauer Exil auf seine Chance wartet. Statt der vom Regime aussortierten Männer führen nun drei Frauen die Opposition gegen Lukaschenko an. Und sie schaffen es, so viele Menschen auf die Straße zu bringen, wie es in Belarus noch niemandem zuvor gelungen ist – seit dem Untergang der UdSSR.

    Demonstranten versammeln sich nach der Präsidentenwahl auf den Straßen von Minsk.
    Demonstranten versammeln sich nach der Präsidentenwahl auf den Straßen von Minsk. Foto: Sergei Grits/AP, dpa

    In der Wahlnacht erlebt die ehemalige Sowjetrepublik dann die heftigsten Proteste seit 1990. Die verlässlichsten Schätzungen gehen später von rund hunderttausend Menschen in allen Landesteilen aus, die ihren Unmut über das mutmaßlich gefälschte Ergebnis auf die Straßen tragen. Sie ziehen durch die Städte, schwenken die alte weiß-rot-weiße Nationalflagge von 1917, die Lukaschenko verboten hat, und rufen den Polizisten zu: „Werft die Schilde weg!“ Doch Überläufer gibt es nicht. Die Staatsmacht ist vorbereitet. Im Einsatz sind tausende schwer bewaffnete und besonders regimetreue Männer der Sondereinheit Omon. In Minsk und größeren Städten sind zudem Militäreinheiten stationiert. In Rufbereitschaft.

    Lukaschenko lässt Proteste brutal niederschlagen

    Als die Menge der Protestierenden immer weiter anschwillt, gehen die Omon-Truppen mit Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen gegen die „nicht genehmigten Versammlungen“ vor. Aber auch die Regimegegner zeigen sich entschlossen und teilweise gewaltbereit, obwohl Tichanowskaja zum „bedingungslos friedlichen“ Protest aufgerufen hat. Demonstranten errichten Straßenblockaden aus Müllcontainern und bewerfen die Sonderpolizisten – etwa mit Obst, aber es sind Flaschen darunter und wohl auch Steine. Die Reaktionen sind von hoher Brutalität gekennzeichnet. Die Bilder aus der „Blutnacht“ zeigen immer wieder Polizisten, die mit Schlagstöcken wahllos auf Menschen einprügeln.

    Es gibt viele Dutzend Verletzte und nach Angaben aus Oppositionskreisen einen Toten. Der Mann sei von einem Omon-Transporter überrollt worden. Das Innenministerium widerspricht und vermeldet 25 verletzte Polizisten sowie rund 3000 Festnahmen. Die „Randalierer“ würden mit aller Härte des Gesetzes zur Verantwortung gezogen. Präsident Lukaschenko nennt das Vorgehen „eine angemessene Reaktion“. Er werde nicht zulassen, dass das Land zerbricht. „Ich habe euch vorher gewarnt, dass es bei uns keinen Maidan geben wird“, erklärt er unter Verweis auf die Proteste in der Ukraine von 2014.

    Die Wahlkommission in Belarus hat Staatschef Alexander Lukaschenko zum Sieger der Präsidentenwahl erklärt.
    Die Wahlkommission in Belarus hat Staatschef Alexander Lukaschenko zum Sieger der Präsidentenwahl erklärt. Foto: Sergei Grits/AP, dpa

    In der Tat: Lukaschenko hatte im Vorfeld mehrfach mit Blutvergießen gedroht. „Wer mir nicht geglaubt hat, der glaubt es vielleicht jetzt“, erklärt er drohend und versichert allen, die weiter protestieren wollen: „Wir geben das Land nicht her.“ Verlassen kann er sich dabei vorerst auf die Unterstützung aus Russland. Kremlchef Wladimir Putin gehört am Tag nach der Wahl zu den ersten Gratulanten des alten und neuen Präsidenten. Die EU hingegen verurteilt den Gewalteinsatz scharf: „Die gewaltsame Unterdrückung von friedlichen Protesten hat keinen Platz in Europa“, erklärte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und forderte eine präzise Stimmenauszählung. Die EU ließ offen, wie die Beziehungen zu Belarus weiter gestaltet werden sollen.

    Wortweiser: Lange Zeit wurden die Staatsbezeichnungen Belarus und Weißrussland im deutschen Sprachraum synonym verwendet. Offiziell nennt sich die Ex-Sowjetrepublik seit ihrer Unabhängigkeit 1991 Belarus. „Bela“ heißt weiß, „rus“ verweist auf die mittelalterliche Rus. Das erste ostslawische Reich mit dem Zentrum Kiew war die Wiege mehrerer Kulturen und Nationen. Die Ukraine, Russland und Belarus gehören dazu, mit eigenen Sprachen. Da der Name Weißrussland eine Zugehörigkeit zu Russland suggeriert, hat sich in der Diplomatie Belarus durchgesetzt. Daran orientiert sich nun auch unsere Redaktion.

    Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Swetlana Tichanowskaja gebührt schon jetzt der Friedensnobelpreis

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