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Griechenland: Drama im Flüchtlingslager: „Ein Funke genügt – und alles fliegt in die Luft“

Griechenland

Drama im Flüchtlingslager: „Ein Funke genügt – und alles fliegt in die Luft“

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    Explosive Stimmung: Erst kurz vor Weihnachten kam es in diesem Flüchtlingslager auf der Insel Samos wieder zu Ausschreitungen. Die Polizei setzte Tränengas ein.
    Explosive Stimmung: Erst kurz vor Weihnachten kam es in diesem Flüchtlingslager auf der Insel Samos wieder zu Ausschreitungen. Die Polizei setzte Tränengas ein. Foto: Michael Svarnias/AP, dpa

    Georgios Stantzos sitzt am Schreibtisch seines Büros an der Platia Dimarchou, dem Rathausplatz von Samos. Erst seit Anfang September ist der 53-Jährige Bürgermeister der griechischen Inselgemeinde, aber schon denkt er daran, alles hinzuschmeißen. „Wenn wir keine Hilfe bekommen und die Lage ausweglos wird, dann treten der gesamte Stadtrat und ich geschlossen zurück“, droht der parteilose Kommunalpolitiker.

    Ausweglos? Noch auswegloser kann es eigentlich nicht mehr werden. Nur ein paar hundert Meter Fußweg sind es vom Rathausplatz hinauf zur Umgehungsstraße. Dort ist das Lager. Für 648 Menschen wurde das Camp mit seinen Wohncontainern konzipiert, als es 2016 als so genannter Hotspot, als Lager für die Erstaufnahme und Registrierung ankommender Migranten, eingerichtet wurde. Inzwischen leben hier gut zwölf Mal so viele Menschen. Bürgermeister Stantzos rechnet vor: „Unsere Stadt hat 7000 Einwohner und fast 8000 Migranten – das geht nicht.“ Er sagt das voller Verzweiflung.

    Immer wieder hat er in den vergangenen drei Monaten an die Regierung in Athen appelliert, mehr Migranten aufs Festland zu bringen, das Lager zu verkleinern. Die Behörden versuchen das zwar. Seit Anfang Dezember haben sie 377 Migranten von Samos aufs Festland gebracht. Aber im gleichen Zeitraum kamen 784 Schutzsuchende von der türkischen Küste neu auf die Insel. „Die Überfüllung wird immer schlimmer“, klagt Stantzos.

    „Unsere Stadt hat 7000 Einwohner und fast 8000 Migranten – das geht nicht“: Georgios Stantzos, Bürgermeister von Samos.
    „Unsere Stadt hat 7000 Einwohner und fast 8000 Migranten – das geht nicht“: Georgios Stantzos, Bürgermeister von Samos. Foto: Gerd Höhler

    Eine neue Flüchtlingskrise bahnt sich an. Zwischen Anfang Januar und Mitte Dezember kamen 68.000 Schutzsuchende aus der Türkei nach Griechenland. Das waren fast 50 Prozent mehr als 2018. In jüngster Zeit beschleunigt sich der Anstieg sogar. Seit Anfang Oktober hat sich die Zahl der neu Ankommenden gegenüber dem Vorjahr fast verdreifacht. Die Küstenwache und Einsatzkräfte der europäischen Grenzschutzagentur Frontex griffen allein über Weihnachten in der Ägäis gut 200 Menschen aus Booten auf.

    Aus griechischer Sicht ist die Lage sogar kritischer als 2015 

    Damit erreichen die Zahlen zwar noch nicht das Niveau vom Krisensommer 2015, als an manchen Tagen bis zu 9000 Menschen über die Ägäis kamen. Aus griechischer Sicht ist die Lage aber heute kritischer als damals.

    Denn während die Migranten 2015 über den Balkan weiter nach Norden zogen, müssen sie jetzt in Griechenland bleiben. So bestimmt es das im März 2016 mit der Türkei geschlossene Flüchtlingsabkommen. Eine Einigung in der Europäischen Union für eine Verteilung der Flüchtlinge steht jedoch seit Jahren aus. Ob die angesichts der Lage in Griechenland nun wieder aufgeflammte Debatte daran etwas ändern wird, ist mehr als fraglich.

    Noch im April hielten sich in den Unterkünften auf den griechischen Inseln Lesbos, Samos, Chios, Leros und Kos, die für knapp 8800 Bewohner ausgelegt sind, etwa 14.000 Menschen auf. Am 23. Dezember waren es bereits 42.000. Im berüchtigten Lager Moria auf Lesbos, das eine Kapazität von 2840 Plätzen hat, hausen aktuell 20940 Menschen. Die meisten leben in selbstgezimmerten Behausungen oder Zelten. Bewohner beschreiben das Lager als „Dschungel“ und „Hölle“, Hilfsorganisationen sprechen von Moria als der „Schande Europas“.

    Auf die Menschen dort wartet ein harter Winter. Die meisten Zelte sind nicht beheizbar und bieten kaum Schutz vor Kälte. Warmes Wasser zum Duschen gibt es für die wenigsten Bewohner.

    Am meisten leiden die Kinder. Er sei schockiert gewesen, als er jetzt Moria besuchte, sagt Christos Christou, Präsident von Ärzte ohne Grenzen (MSF). Die Hilfsorganisation versucht in vielen griechischen Flüchtlingslagern wenigstens ein Minimum an medizinischer und psychologischer Betreuung zu leisten. Ein Drittel der Bewohner des Lagers Moria sind Kinder. Die Mitarbeiter von MSF berichten von Minderjährigen, die dort Selbstmordversuche unternehmen. „Diese Kinder haben den Appetit auf das Leben verloren, sie spielen nicht mehr, sprechen nicht mehr – man hat ihnen ihre Kindheit gestohlen“, sagt Christou.

    Die Situation in Moria sei „vergleichbar mit dem, was wir nach Naturkatastrophen oder in Kriegsgebieten sehen“, sagt Christou. Es sei empörend, diese Bedingungen in Europa zu sehen und zu wissen, dass sie nicht Folge eines Desasters sind, sondern „das Ergebnis gezielter politischer Entscheidungen“. In einem offenen Brief an die Staats- und Regierungschefs der EU appellierte Christou Ende November: „Stoppen Sie diesen Wahnsinn!“

    Am meisten leiden die Kinder in den Flüchtlingslagern

    Besonders schutzlos sind jene Kinder und Jugendlichen, die ohne Eltern oder andere Angehörige in den Lagern leben. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR sind das etwa 5300. Davon sind rund 500 jünger als 14 Jahre. Nur jeder fünfte unbegleitete Minderjährige ist angemessen untergebracht und wird betreut. Die anderen sind auf sich selbst angewiesen und schutzlos. Viele sind schwer traumatisiert, einige suizidgefährdet, manche aggressiv.

    Die altersgerechte Unterbringung und Betreuung dieser unbegleiteten Minderjährigen ist personalintensiv und kostspielig, erklärt Giorgos Protopapas, der Direktor der SOS-Kinderdörfer in Griechenland. Seine Organisation hat jahrzehntelange Erfahrungen im Umgang mit Waisen und Kindern aus zerbrochenen Familien. „Man kann sie nur in kleinen Gruppen von höchstens 25 unterbringen und angemessen betreuen, man braucht Mediziner, Psychologen, Pädagogen und Dolmetscher rund um die Uhr“, sagt Protopapas.

    Dass jetzt der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck in Deutschland eine Diskussion darüber angestoßen hat, unbegleitete Minderjährige aus den Camps herauszuholen, begrüßt man in Griechenland. „Wir hoffen, dass sich endlich etwas bewegt“, heißt es in Athener Regierungskreisen. Schon im Oktober hatte der griechische Minister für Bürgerschutz in einem Brief an seine EU-Amtskollegen gebeten, seinem Land bei der Betreuung unbegleiteter Minderjähriger zu helfen. Im November erneuerte Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis in einem Interview mit dem Handelsblatt diesen Appell: „Kann es so schwer sein für die EU, dass wir zusammen eine Einigung finden, wie wir diese Kinder in den EU-Ländern verteilen?“

    Die Griechen fühlen sich von den anderen EU-Staaten im Stich gelassen

    Auf Samos hofft auch Bürgermeister Stantzos auf Hilfe. Hinter seinem Schreibtisch stehen die Flaggen Griechenlands und seiner Insel, aber auch die blaue Europafahne mit den zwölf Sternen. „Bisher fühlen wir uns von Europa im Stich gelassen“, sagt er. Besonders das Schicksal der Kinder geht ihm zu Herzen. Im Lager oberhalb der Stadt leben 22 unbegleitete Mädchen in einem Wohncontainer, der regulär für fünf Bewohner vorgesehen ist. Weil es in den Containern des eigentlichen Hotspots längst keine freien Schlafplätze mehr gibt, breitet sich das Lager in die angrenzenden Olivenhaine aus. Wer neu ankommt, muss sich dort einen Schlafplatz suchen.

    Viele Menschen leben in kleinen Campingzelten. Andere schleppen Latten, Bretter, Pappkartons und Plastikplanen aus der Stadt hinauf ins Lager, um sich Behausungen zu zimmern. Wenn es regnet, verwandeln sich die Trampelpfade im Lager in Schlammwüsten. Unten an der Umgehungsstraße haben die Behörden chemische Toiletten aufgestellt, aber es sind viel zu wenige für die fast 8000 Menschen. „Unsere Infrastruktur ist überfordert“, sagt Bürgermeister Stantzos. „Müllabfuhr, Stadtreinigung, Abwasserentsorgung, öffentliche Sicherheit, soziale Dienste, medizinische Versorgung – wir sind überall am Limit.“

    „Alle wollen nach Deutschland“: Die Palästinenser (von links) Awad, Mahdi und Muheer hoffen auf Asyl.
    „Alle wollen nach Deutschland“: Die Palästinenser (von links) Awad, Mahdi und Muheer hoffen auf Asyl. Foto: Gerd Höhler

    Immer wieder kommt es im Lager zu Unruhen. Im Oktober legte eine Gruppe randalierender Migranten im Camp Feuer, mehrere Container und Zelte brannten ab. Mitte Dezember gab es erneut Ausschreitungen, die Polizei setzte Tränengas ein. „Die Stimmung im Lager ist explosiv“, sagt Stantzos. „Ein Funke genügt – und alles hier fliegt in die Luft.“ Die einzige Lösung sei, mehr Migranten aufs Festland zu bringen, sagt er.

    Auch Awad, Mahdi und Muheer hoffen, dass sie bald eine Fahrkarte nach Piräus bekommen. Sie wollen weg von der Insel, möglichst schnell. Die drei jungen Männer sitzen auf einer Bank am Hafen. Sie kommen aus Palästina. 800 Euro hat jeder von ihnen den Schleusern gezahlt, die sie vor neun Monaten in einem Schlauchboot von der türkischen Küste nach Samos brachten. „Wir haben Palästina verlassen, weil es dort keine Arbeit gibt“, sagt Mahdi. Jetzt hoffen die drei auf Asyl. Dann wollen sie weiter. Wohin? „Nach Deutschland natürlich“, sagt Muheer. Mahdi lächelt: „Alle wollen nach Deutschland!“

    Lesen Sie dazu auch: Europa steuert auf eine neue Asylkrise zu

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