Entwicklungsminister Gerd Müller aus Kempten ist einer der eifrigsten Verfechter von Klimaneutralität. An den verschiedensten Stellen wirbt der CSU-Politiker dafür, dass sich Firmen oder ganze Branchen klimaneutral stellen, also weniger klimaschädlichen Gase verursachen oder ihren Ausstoß wenigstens kompensieren. Und er wirbt, wie vor einigen Wochen im Interview mit unserer Redaktion geschehen, zum Ausgleich "in den Regenwaldfonds meines Ministeriums" einzubezahlen.
Kompensation bedeutet Reduktion von Klimagasen an anderer Stelle, zum Beispiel durch Investitionen in die Aufforstung neuer Wälder in Südamerika oder Asien. Gern gewählte Beispiele sind auch die Förderung von Solarkochern in Schwellen- und Entwicklungsländern, weil weniger Holz verfeuert werden muss, was wiederum die Regenwälder schont. Oder der freiwillig bezahlte Aufpreis auf ein Flugticket, mit dem Organisationen dann wiederum Gutes fürs Klima tun sollen.
Mit Kompensationsangeboten ist ein regelrechtes Geschäftsfeld entstanden
Es ist ein regelrechtes Geschäftsfeld unterschiedlichster Kompensationsangebote entstanden. Der Begriff "Klimaneutralität" taucht immer häufiger im Zusammenhang mit Marketing und Kommunikation auf, wird zum Zugpferd in der Produktwerbung. Kritiker sprechen von einem modernen "Ablasshandel", mit dem sich Industriestaaten ihrer Umweltschuld entledigen. "Kompensation irgendwo in der Welt bringt Deutschland nicht voran", schimpft die Deutsche Umwelthilfe. Ein klimaschädlicher Lebens- und Produktionsstil werde "billig" erkauft. Es gebe keinen Anreiz für Innovationen, im ungünstigsten Fall würden die Emissionen sogar noch steigen.
Die Kompensation also ein Irrweg zum wirksamen Klimaschutz? Auf Dauer schon, da sind sich die Experten einig. Sie sehen sie allenfalls als Beitrag zur Abmilderung der CO2-Emissionen. Aber die Herausforderung eines Lebensstils mit geringerem Ausstoß von klimaschädlichen Gasen würde die heutige Generation der nächsten überlassen, sagt die Umwelthilfe.
Von 2050 an sollen keine neuen Treibhausgase aus Europa in die Atmosphäre gelangen
Nun präsentiert die neue Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen ihre eigenen Vorstellungen eines klimaneutralen Europas, die viele Kompensationen langfristig vielleicht überflüssig machen könnten. Von 2050 an sollen keine neuen Treibhausgase aus Europa in die Atmosphäre gelangen, um die Überhitzung der Erde mit allen ihren katastrophalen Folgen zu bremsen. Nur noch Autos ohne Abgase, Fabriken ohne Schlot und optimal gedämmte Häuser, dazu riesige neue Wälder und grüne Städte. Europa soll in 30 Jahren völlig anders aussehen und der Welt zeigen, wie das geht: eine moderne Wirtschaft, die die Erde nicht kaputt macht. Das ist von der Leyens "Green Deal".
Anstatt Anreize zu schaffen, anderswo einen Ausgleich für klimaschädliches Verhalten in Europa zu schaffen, will die EU-Kommission konkret handeln. Was heißt das nun konkret?
Das Paket: In den kommenden beiden Jahren will die EU-Kommission unter anderem diese Gesetze vorlegen, weitere werden folgen:
- eine neue Industriestrategie,
- ein Programm für sauberen Verkehr und neue Emissionsgrenzwerte für Autos,
- Ausweitung des Emissionshandels auf den Schiffs- und Luftverkehr,
- schnellerer Ausbau von Energie-Effizienz und Ökoenergie.
- strengere Standards für Luftreinhaltung und sauberes Wasser.
- eine auf Umwelt und Klima ausgerichtete Agrarreform,
- drastische Reduzierung von Pestiziden und Dünger sowie
- Aufforstung von Wäldern.
Die Kosten: Bis 2030 rechnet die EU-Kommission mit jährlichen Kosten von 260 Milliarden Euro, was 1,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der EU entspricht. Langfristig soll ein Viertel jedes EU-Jahresetats in den Klimaschutz fließen. Unternehmen können aus einem Sonderprogramm der Europäischen Investitionsbank über eine Billion Euro an Krediten in Anspruch nehmen. Auch für den Privatsektor sind Anreize vorgesehen. Weitere 100 Milliarden Euro sollen in Regionen fließen, die am meisten unter den wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Klimawandels leiden. Außerdem werden Bürger unterstützt, die durch den Umstieg auf grünes Wirtschaften beispielsweise ihren Job verlieren.
In Augsburg steht ein Beispiel für Klimaneutralität
Regionale Beispiele für Klimaneutralität: In Augsburg steht das weltweit erste CO2-neutrale Stadion. Die WWK-Arena wird klimaneutral beheizt und gekühlt. Dafür sorgen schwerpunktmäßig zwei Großwärmepumpen. Der FC Augsburg als Betreiber sagt, dass 750 Tonnen Kohlendioxid im Jahr gespart werden. Das Hotel Eggensberger in Hopfen am See produziert seinen Strom selbst mit einem Blockheizkraftwerk und Sonnenenergie, stellt Gästen und Mitarbeitern E-Autos zur Verfügung und chauffiert Gäste zum Wandern. Der Käsehersteller Hochland (Heimenkirch) geht aktuell den Weg der Kompensation. Er produziert seit dem Sommer zu 100 Prozent klimaneutral, indem er in Projekte zur CO2-Bindung und -Vermeidung von Plant-for-the-Planet investiert. Das dürfte auch im Sinne von Gerd Müller sein.
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