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Gesundheit: Plötzlich Thema im Wahlkampf: Was in der Krankenpflege schiefläuft

Gesundheit

Plötzlich Thema im Wahlkampf: Was in der Krankenpflege schiefläuft

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    Warnstreik an der Berliner Charité: Musste 1991 eine Krankenpflegerin als Vollzeitkraft rechnerisch 45 Fälle versorgen, sind es heute über 60.
    Warnstreik an der Berliner Charité: Musste 1991 eine Krankenpflegerin als Vollzeitkraft rechnerisch 45 Fälle versorgen, sind es heute über 60. Foto: Christian Ditsch, epd

    In ganz Deutschland drohen derzeit Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger mit Warnstreiks. Nicht weil sie mehr Geld fordern, sondern mehr Personal. Und auch im Wahlkampf gewinnt das Thema an Bedeutung: Erst konfrontierte vergangene Woche der junge Krankenpfleger Alexander Jorde in der „ARD-Wahlarena“ Angela Merkel mit der harten Wirklichkeit in den deutschen Krankenhäusern.

    Der 21-Jährige brachte die Kanzlerin sichtbar aus dem Konzept, als er ihr ins Gesicht sagte, die Würde des Menschen in deutschen Krankenhäusern und Altenheimen werde „tagtäglich tausendfach verletzt“, Menschen lägen stundenlang in ihren Ausscheidungen. Am Montagabend erging es ihrem Herausforderer Martin Schulz wenig besser: Der SPD-Chef kündigte mangels eigener Pläne recht überstürzt einen „Neustart in der Pflege“ an, ohne Details nennen zu können. Was läuft schief? Einige Fragen und Antworten:

    Wo liegen die größten Probleme im Pflegesystem der Kliniken?

    Im deutschen Krankenhaus-System wurde über Jahre bei der sogenannten Pflege am Bett gespart, im Gegenzug wurde die Zahl der Ärzte erhöht, wie unter anderem Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz immer wieder beklagt. Tatsächlich stellten die Kliniken mehr Ärzte ein, auch weil sie seit der Einführung des Fallpauschalen-Systems zur Krankenhausfinanzierung mehr Geld an der Zahl der Operationen erlösen als an der Aufenthaltsdauer der Patienten. In diesem Finanzierungssystem ist die Pflege dagegen ein reiner Kostenfaktor. Obwohl die Zahl der Patienten und der Eingriffe steigt, blieb die Zahl des Krankenpflegepersonals gleich: Als Folge steigt die Belastung. Und die Zeit, die Krankenschwestern für die Zuwendung für jeden Patienten bleibt, sinkt. Musste 1991 eine Krankenpflegerin als Vollzeitkraft rechnerisch 45 Fälle versorgen, sind es heute über 60.

    Welche Probleme entstehen dadurch für Patienten?

    Tatsächlich warnen viele Experten, dass die unzureichende Zahl an Pflegekräften längst zu einem Gesundheitsrisiko für die Patienten geworden ist. Nicht nur, dass menschliche Zuwendung auch aus medizinischen Gesichtspunkten einen nicht zu unterschätzenden Faktor für die Genesung darstellt. Personalmangel und hoher Zeitdruck sind auch ein wesentlicher Grund für mangelnde Hygiene, etwa bei der Händedesinfektion. Dies kann zu Krankenhausinfektionen und damit letztlich zu gefürchteten Keimresistenzen führen, gegen die kaum ein Antibiotikum mehr hilft. Es gilt als offenes Geheimnis, dass in der tatsächlichen pro Patient zur Verfügung stehenden Zeit die Hygienevorschriften für Händedesinfektion kaum in der Realität einzuhalten sind. „Zu wenig Personal heißt zu wenig Zeit“, sagt Sylvia Bühler vom Bundesvorstand der Gewerkschaft Verdi. Die ständige Zeitnot mache die Beschäftigten krank und auch eine gute Versorgung der Patienten sei unter diesen Umständen oft nicht möglich. Betroffen sind den Angaben zufolge sowohl öffentliche als auch private Krankenhäuser.

    Wie steht Deutschland im internationalen Vergleich da?

    In einer US-Studie unter 13 Industriestaaten von 2012 rangierte Deutschland als Schlusslicht bei der Pflege. Demnach kommen in den USA im Versorgungsschlüssel durchschnittlich 5,3 Patienten auf eine Pflegekraft, in den Niederlanden sind es sieben Patienten, in Schweden und der Schweiz acht und in Deutschland sind es 13 Patienten.

    Was tut der Staat gegen den Pflegenotstand?

    Die Bundesregierung hat durch eine Reform der Pflegeausbildung versucht, die Pflegeberufe attraktiver zu machen. Die Vereinheitlichung der Ausbildung in den ersten beiden Jahren soll vor allem für bessere Einkommen in der Pflege sorgen. Allerdings wird es Jahre dauern, bis in den Kliniken und Heimen positive Folgen der Reform ankommen. Die Koalition versucht zudem, den Druck auf die Krankenhausbetreiber zu erhöhen, um die Personalsituation zu verbessern. So verpflichtete die Bundesregierung Krankenhäuser, einen Mindestpersonalschlüssel für die Pflege festzulegen. Allerdings lässt die Regierung den Kliniken dafür bis 2019 Zeit und verzichtet darauf, per Gesetz selbst klare Vorgaben zu machen. Zudem stellt der Bund über das Krankenhausstrukturgesetz für die Pflege in den nächsten Jahren zusätzliche Milliarden zur Verfügung.

    Wie viel Personal fehlt?

    Laut der Gewerkschaft Verdi fehlen derzeit in deutschen Krankenhäusern 70000 Pflegekräfte, um eine angemessene Versorgung sicherzustellen. Andere Studien gehen zudem davon aus, dass Deutschland, um den jetzigen Standard zu halten, wegen der alternden Gesellschaft in den kommenden zehn bis 20 Jahren jedes einzelne Jahr zusätzlich etwa 20000 Pflegekräfte bräuchte. Laut dem Deutschen Krankenhausinstitut sind außerdem schon jetzt bundesweit knapp 3900 Vollzeitstellen unbesetzt. Das entspricht knapp zwei Prozent aller Stellen, weil die Kliniken sich schwertun, Fachkräfte zu finden. Eine internationale Studie ergab zudem, dass in Deutschland 36 Prozent der Krankenpflegekräfte wegen der Belastung überlegen, den Job zu wechseln.

    Was könnte man tun, um die Situation zu verbessern?

    Nach Ansicht des Deutschen Pflegerates wären bessere Arbeitsbedingungen der Schlüssel, um kurzfristig gegen den Personalnotstand in der Pflege anzugehen. Es gebe zehntausende ausgebildete Pflegekräfte, die den Beruf aufgrund der hohen Belastung nicht mehr ausübten, sagt der Präsident des Pflegerates, Franz Wagner. Ein weiteres großes Potenzial könnte auch die hohe Teilzeitquote von 60 bis 70 Prozent sein: Wenn einzelne Pflegekräfte mehr Stunden arbeiten würden, wäre schon einiges erreicht, sagt Wagner. Ausländische Pflegekräfte könnten dagegen nur eine geringe Entlastung bringen. Die Gewerkschaft Verdi fordert vor allem klare Vorgaben für die Mindestpersonalausstattung. Ruppert Mayr, dpa; Michael Pohl

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