Der Mann, der nicht möchte, dass auf seiner Wiese am Ortsrand von Oberthulba gejagt wird, stammt von einem kleinen Bauernhof. Er kennt die Gepflogenheiten auf dem Lande. Als Bub ist er selber mitgelaufen, wenn im Herbst Treiber für eine Gesellschaftsjagd gebraucht wurden. Er weiß von klein auf, dass alle Feld- und Waldgrundstücke automatisch zu einem Jagdrevier gehören – auch die seiner Familie. Überall in Deutschland ist das so. Das Bundesjagdgesetz und die Landesjagdgesetze schreiben vor, dass jeder Eigentümer kleinerer Flächen außerhalb von Siedlungen Mitglied einer Jagdgenossenschaft sein muss. Selbst Jagdgegner konnten sich deshalb bisher nicht dagegen wehren, dass auf ihren Grundstücken Wildtiere getötet werden.
Roland Dunkel hat es trotzdem versucht. Schon 2007. Unter dem Sonnenschirm in seinem großen Garten holt er weit aus, um zu erklären warum. Ein nachdenklicher Mann, 54 Jahre alt, Vater und Großvater, Verwaltungsangestellter im Rathaus der kleinen Rhöngemeinde. Sogar ein autobiografisches Buch hat er geschrieben – „Geschichten, Gedanken und Empfindungen über unser Verhältnis zu Tieren“.
Kindheit zwischen Stall und Wurstküche
Einem Ziel sieht er sich jetzt ganz nah – aus der Zwangsmitgliedschaft in der Jagdgenossenschaft entlassen zu werden und seine Grundstücke draußen in der Flur für „befriedet“ erklären zu lassen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg bietet dazu die Grundlage. Am 26. Juni hat er geurteilt, dass es für Menschen, die die Jagd aus Gewissensgründen ablehnen, eine „unzumutbare Belastung“ ist, diese auf ihren Grundstücken dulden zu müssen und dass das deutsche Jagdrecht den Schutz des Eigentums verletzt.
Das Urteil, das nicht anfechtbar ist, hat der Jurist und Tierschützer Günter Herrmann aus Stutensee in Baden-Württemberg erstritten, nachdem er in Deutschland durch alle Instanzen bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht gescheitert war. Jetzt muss das Jagdrecht in Deutschland geändert werden, wie schon 1999 in Frankreich und 2007 in Luxemburg. Das Bundeslandwirtschaftsministerium in Berlin arbeitet bereits daran. Noch in dieser Legislaturperiode wird mit dem Ergebnis gerechnet.
Pferde auf der Weide und Zäune im Wald
Roland Dunkel will nicht bis zum Inkrafttreten eines neuen Bundesjagdgesetzes warten. Sein Verfahren am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof ruht seit 2009. Er und eine weitere Klägerin, vertreten von Dominik Storr, einem der Anwälte, die das Straßburger Urteil ausgefochten haben, waren damit einverstanden. Das Urteil des Gerichtshofs für Menschenrechte sollte abgewartet worden. Jetzt liegt es vor. „Meine Geduld ist am Ende“, sagt Dunkel.
Das Grundstück, um das es geht, ein Hektar groß, liegt hinter seinem Haus, nicht weit vom Waldrand entfernt. Der Zaun, der dort junge Bäume vor dem Wildverbiss schütze, könnte nach seiner Vorstellung auch die Jäger aussperren. Diese Idee stößt bei den Praktikern nicht auf Gegenliebe: Die Landschaft würde so zu einem „Fleckerlteppich“ aus bejagbaren und nicht bejagbaren Flächen, in der eine effektive Jagd nicht mehr möglich sei, warnt der bayerische Jägerpräsident Jürgen Vocke. Vonseiten der Grundeigentümer, die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Jagdgenossenschaften und Eigenjagdbesitzer zusammengeschlossen sind, heißt es, die Wildbestände würden unverhältnismäßig ansteigen und damit die Wildschäden, Tierseuchen und Verkehrsunfälle.
Das mit dem „Fleckerlteppich“ sei doch wohl übertrieben, meint Jagdgegner Dunkel. Grundstücksbesitzer, die aus ethischen Gründen die Jagd ablehnen, gebe es nicht so viele, dass es ins Gewicht fallen werde. Zudem zweifelt er grundsätzlich an, dass die Wildbestände zum Wohle der Allgemeinheit reguliert werden müssen. Da Deutschland nahezu flächendeckend bejagt wird, „wissen wir nicht, ob es notwendig ist“, sagt Dunkel. „Wir müssten es ausprobieren.“ Hoffnung setzt er deshalb in ein Projekt des Nationalparks Hainich in Thüringen. Er umfasst das größte zusammenhängende Laubwaldgebiet Deutschlands und ist seit 2011 Unesco-Weltnaturerbe.
Im Nationalpark Hainich wird so wenig wie möglich geschossen
Mit einer französischen Studie argumentiert Dominik Storr, der Anwalt der Jagdgegner. 22 Jahre lang hätten Wissenschaftler um Sabrina Servanty die Vermehrung von Wildschweinen in einem stark bejagten Gebiet an der Marne mit einem wenig bejagten in den Pyrenäen verglichen. Ergebnis: Die Wildschweine, die intensiv bejagt werden, vermehrten sich wesentlich stärker und seien früher geschlechtsreif, als die, die in Ruhe gelassen werden.
Der 41-jährige Jurist mit den schulterlangen blonden Haaren wohnt 50 Kilometer entfernt von seinem Mandanten Roland Dunkel in einem reizvollen Abschnitt des Maintals. Er sei von Würzburg hierhergezogen, „um die Natur zu genießen“, sagt Storr. Doch die Freude an der Natur sei ihm vergangen, seit er schreckliche Szenen einer Treibjagd miterlebt habe.
Storr erzählt von Frau Becker in Würzburg, einer pensionierten Lehrerin, die lange nicht wusste, dass sie „Jagdgenossin“ ist, und dass auf ihrem Eichengrundstück an einem Hang gelegentlich ein Jäger schießt. Auch ihre Klage gegen die Zwangsmitgliedschaft in der Jagdgenossenschaft liegt beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof.
Die Ministerien warten ab, prüfen und analysieren
Laut Storr habe der Naturschutzbund Deutschland (Nabu) angekündigt, seine Flächen aus der Bejagung herauszunehmen. Laut Barbara Frank, der Justiziarin des Landesjagdverbandes, soll auch die Weltanschauungsgemeinschaft „Universelles Leben“ Grundeigentümer aufgefordert haben, von diesem Recht Gebrauch zu machen. Frank glaubt, dass es die Jagdgenossenschaften künftig noch schwerer haben werden, Pächter für Reviere zu finden, in denen einzelne Grundeigentümer die Jagd verbieten.
Eine Gnadenfrist bleibt ihnen noch. „Die derzeitige Gesetzeslage ermöglicht noch keinen Austritt aus einer Jagdgenossenschaft“, teilt Philipp Erbach-Fürstenau, Pressereferent des Bundeslandwirtschaftsministeriums mit. Die Jagdrechtsänderung sei derzeit „Gegenstand einer umfangreichen Prüfung und Analyse.“ Und eines sei dabei klar: „Mit einem Schnellschuss wäre niemandem geholfen.“