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Gesellschaft: Gauck wendet sich gegen Verteufelung rechtskonservativer Werte

Gesellschaft

Gauck wendet sich gegen Verteufelung rechtskonservativer Werte

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    Meldet sich zu Wort: der frühere Bundespräsident Joachim Gauck sorgt sich um die Demokratie.
    Meldet sich zu Wort: der frühere Bundespräsident Joachim Gauck sorgt sich um die Demokratie. Foto: Hendrik Schmidt, dpa

    Die Hoffnung war: Wenn die Corona-Pandemie im Griff ist, dann werden auch die Querdenker ihr Tun überdenken. Die Realität ist: Die Demos der Impfgegner sind zwar nicht mehr so gut besucht wie im Herbst 2020, aber ein harter Kern hat sich radikalisiert, schreckt vor Gewalt nicht zurück. Die Befürchtung ist: Eine wachsende Zahl von Bürgern stellt den Staat, die Verfassung und die Demokratie generell in Frage. Die Einschränkungen während der Pandemie werden zum Anlass genommen, zum Widerstand gegen das „System“ aufzurufen. Ist es morgen eine „Klimadiktatur“, gegen die Militanz als probates Mittel angesehen wird?

    „Die Gefährdung der Freiheit aus der Freiheit heraus“ – diesen Satz sagte der frühere Bundespräsident Joachim Gauck am Donnerstag bei einer Debatte im Presseclub München auf die Frage, warum eine wachsende Zahl der Deutschen offensichtlich der Demokratie müde, ja überdrüssig ist. Es sei schlimm für einen „ehemaligen Bewohner des kommunistischen Weltreichs“, dieses Phänomen zu beobachten, sagte der 81-Jährige, der vor der politischen Wende als regimekritischer evangelischer Pfarrer in Mecklenburg-Vorpommern tätig war.

    AfD ist in der Querdenker-Szene aktiv

    Einen ganz genauen Blick auf die Querdenker- und Impfgegnerszene pflegt Sven Reichardt. Der Historiker war beteiligt an einer umfassenden Untersuchung der Universität Konstanz von Soziologen, Historikern, Medienwissenschaftlern und Ethnologen über die Motive, die so genannte „Querdenker“ antreibt. „Zur Zeit unserer Untersuchung war die politische Bandbreite unter den Demonstrierenden sehr groß. Viele hatten einen grünen oder alternativen Hintergrund, darunter auch Esoteriker oder Yoga-Anhänger und -Anhängerinnen. Nach meiner Beobachtung kommt der AfD, insbesondere im Osten, bei den Protesten heute eine große, wenn nicht sogar dominierende Rolle zu.“

    Der furchtbare Mord an einem jungen Mitarbeiter einer Tankstelle in Idar-Oberstein, erschossen von einem fanatischen Gegner der Masken-Pflicht, hat das Land geschockt. Unter dem Radar der bundesweiten Öffentlichkeit gibt es jedoch immer wieder gewalttätige Übergriffe von Impfskeptikern - Anschläge auf Impfzentren, Übergriffe in öffentlichen Verkehrsmitteln.

    Querdenker-Demonstration in München. Protestierende verlangen, dass der Landtag abgeschafft wird.
    Querdenker-Demonstration in München. Protestierende verlangen, dass der Landtag abgeschafft wird. Foto: Peter Kneffel, dpa

    Wie konnte es so weit kommen? Reichardt sagt rückblickend, dass es ein Fehler gewesen sei, "Querdenker nicht ernst genommen" und sie pauschal als "Aluhutträger" oder "Covidioten" verspottet zu haben. "Das hat dazu beigetragen, dass sich viele noch stärker in ihre eigenen kleinen Filterblasen abgekapselt haben und über Telegram oder anderen Plattformen nur noch untereinander kommunizierten“, sagt der Wissenschaftler. Gleichzeitig ist sich Reichardt im Klaren darüber, dass es äußerst schwierig ist, Frauen und Männer, die an abstruse Verschwörungstheorien glauben, in einen sinnvollen Dialog einzubinden: "Für die Medien ist es fast unmöglich, Querdenker oder Verschwörungstheoretiker mitzunehmen. Veröffentlicht eine Zeitung ein Interview mit einem Experten wie Drosten, heißt es, die lassen nur eine Meinung zu. Lassen sie nebeneinander Wissenschaftler mit sich widersprechenden Ansichten zu Wort kommen, kommt der Vorwurf, dass die Experten ja selber nicht wissen, was passiert.“ Das Problem sei, dass Querdenker oft "äußerst selbstbewusst und manchmal auch aggressiv" auftreten würden. Mit ihnen ein sachliches, auf Fakten basiertes Gespräch zu führen, sei äußerst schwierig. Dennoch lohne es sich, Kontakt aufzunehmen - allein schon, weil man dabei "erfahre, wie diese Leute ticken" würden.

    Achim Gaucks Thema ist hingegen, warum immer mehr Leute das Geschenk von Freiheit und Demokratie nicht mehr zu schätzen wissen. Befreit von den Einschränkungen durch das Präsidialamt, formuliert Gauck zugespitzt - und das mit sichtbarem Vergnügen. Seine Sorge ist, dass Teile der nach Analysen gut 30 Prozent große Anteil rechtskonservativ denkender Menschen im Land politisch heimatlos ist. Auch das bedrohe die Demokratie. Er selber sei nicht Teil dieser Gruppe, aber man müsse "ertragen, dass diese Leute sich angesichts der Globalisierung, der digitalen Revolution, der Debatte über das Klima und Zuwanderung" nach Stabilität sehnen würden. Familie, Heimatliebe oder ein aufgeklärter Patriotismus, seien per se nicht zu verurteilen. Gauck: "Es gibt die Ansicht, dass früher alles besser war und die Angst, sich in unserem Land nicht mehr wohlzufühlen." Die kategorische Ablehnung und Verdammung rechtskonservativer Werte sei ein Fehler. Denn: "Wenn man diese Gruppen ausschließt, reagieren sie mit Ablehnung und das ist gefährlich für die Demokratie."

    Joachim Gauck geht mit der AfD hart ins Gericht

    Umso härter geht Gauck mit der AfD ins Gericht . Dass ein eigentlicher bürgerlicher Mann wie Alexander Gauland, der in der hessischen CDU lange eine wichtige Figur gewesen sei, sich mit "Leuten verbündet, die nicht wissen, was Nationalsozialismus ist", sei "unfassbar".

    Wie aber umgehen mit Menschen, die sich von den Grundsätzen der Demokratie und von einer faktenbasierten Wissenschaft vollständig verabschiedet haben? „Es hilft nur Aufklärung und immer wieder zu informieren. Auch Probleme und Defizite bei der Pandemie-Bekämpfung sollten von den Medien offen kommuniziert werden. Damit kann man den harten Kern der Corona-Leugner wahrscheinlich nicht erreichen, aber man kann vielleicht verhindern, dass es mehr werden. Gegen diejenigen, die sich derart radikalisieren, dass Gewalttaten zu befürchten sind, hilft letztlich nur polizeiliche Kontrolle“, sagt Sven Reichardt. Gauck hofft darauf, dass die Politik mehr Führungsstärke zeigt. "Nicht wie in Ungarn oder Polen, sondern im Sinne einer demokratischen Gesellschaft." Geschieht dies nicht, dann wachse der Frust.

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