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Georgien: Ein Kampf ums Recht

Georgien

Ein Kampf ums Recht

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    Am Platz der Freiheit  der Georgischen Hauptstadt Tiflis kämpft der Heilige Georg auf einer Säule gegen den Drachen.
    Am Platz der Freiheit der Georgischen Hauptstadt Tiflis kämpft der Heilige Georg auf einer Säule gegen den Drachen. Foto: Winfried Züfle

    Früh um sechs Uhr ist die junge Frau in ihrem abgelegenen Dorf aufgebrochen, um an diesem Vormittag pünktlich im „Haus der Menschenrechte“ in der georgischen Hauptstadt Tiflis zu sein. Dort ist die Gruppe „Artikel 42“ zu Hause, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen.

    Die junge Frau hat eine erschütternde Geschichte zu erzählen. Bei einem Verkehrsunfall verlor sie ihren linken Arm. Der Unfallverursacher zahlte eine Entschädigung, damit eine Prothese angefertigt werden könnte. Doch der Ehemann der Frau nahm das Geld und kaufte sich davon ein Auto. Seine Frau, die bis heute keine Prothese hat, warf er aus dem Haus. Unterhalt für die beiden Kinder wollte er ebenfalls nicht zahlen. Die junge Mutter war hilflos und verzweifelt.

    Inzwischen konnten wenigstens die Versorgungsansprüche der Kinder vor Gericht durchgesetzt werden. Dabei stand der Frau „Artikel 42“ zur Seite. Die Menschenrechtsorganisation ist nach jenem Paragrafen der georgischen Verfassung benannt, der jedem Bürger den „Schutz seiner Rechte und Freiheiten durch ein

    Georgien, das kleine Land zwischen Schwarzem Meer und Hohem Kaukasus, sucht seinen Weg in die Zukunft. Recht und Gerechtigkeit spielen dabei eine entscheidende Rolle. Aus der Vergangenheit gibt es vieles aufzuarbeiten. Bis 1991 war

    Wie wird heute mit Unrecht aus vergangenen Tagen umgegangen? Ein Gespräch mit Justizministerin Tea Tsulukiani bringt Erstaunliches zutage. Sie gehört zum Parteienbündnis „Georgischer Traum“ des Milliardärs und jetzigen Ministerpräsidenten Bidsina Iwanischwili, das im vergangenen Oktober die Parlamentswahl gewann und die Anhänger des Staatspräsidenten in die Opposition zwang. Nach Tsulukianis Darstellung stellen heute weder die Sowjetzeit noch die anschließenden Chaosjahre das größte Problem dar, nein, aus ihrer Sicht ist es die Regierungszeit Saakaschwilis.

    „Wir können nicht von Amts wegen die Vergangenheit aufarbeiten“, erläutert die zierliche 38-Jährige, die in Frankreich studiert und zehn Jahre lang als Anwältin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gearbeitet hat. „Wir können nur auf Antrag tätig werden. Inzwischen liegen 10 000 unerledigte Anträge vor, und sie betreffen fast alle die letzten acht, neun Jahre.“ Im Einzelnen geht es um Inhaftierungen und Verurteilungen, die möglicherweise ungerechtfertigt waren. Um Unternehmer, die gezwungen wurden, Geld an den Staat zu verschenken. Um ungeklärte Todesfälle, in die Polizisten verwickelt waren, und um den mysteriösen Tod des Premierministers Surab Schwania im Jahr 2005. Ob die Anschuldigungen jeweils zutreffen, ist unklar. Aber die Justizministerin möchte, dass alle Anträge bearbeitet werden.

    Für Saakaschwili, der bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Oktober nach zwei Amtszeiten nicht mehr kandidieren darf und der im Ausland als erfolgreicher Reformer und guter Freund der USA gilt, hat Tea Tsulukiani kein gutes Wort übrig. Er habe das Parlament missachtet, Folter und Vergewaltigung in den Gefängnissen zugelassen, die Bürger seien ärmer, die Eliten reicher geworden. „Das hat mit ,westlich‘ nichts zu tun“, resümiert die Ministerin. Vor allem aber, so klagt sie an, habe „die fehlerhafte Politik Saakaschwilis“ dazu geführt, „dass heute 20 Prozent unseres Territoriums von russischen Truppen besetzt sind“.

    Die Gebiete Abchasien und Südossetien sind seit nahezu fünf Jahren okkupiert. Auch die neue Regierung in Tiflis empfindet diesen Zustand als Unrecht – und als Wunde im eigenen Fleisch. Natürlich sei sie „als Bürgerin sehr böse auf Saakaschwili“, weil dieser den russischen Beistand für die nach Autonomie strebenden Gebiete 2008 provoziert habe, sagt Tsulukiani. „Aber jetzt ist es unser wichtigstes Ziel, im Dialog mit Russland Abzug der Truppen zu erreichen.“

    Ob Georgien den abtrünnigen Gebieten künftig mehr Autonomierechte gewähren will oder mit ihnen sogar nur einen losen Staatenbund eingehen könnte, möchte die Ministerin nicht sagen. „Das kann erst nach einem Truppenabzug verhandelt werden“, meint sie.

    Doch auch im eigenen Land steht Georgien vor großen Herausforderungen, vor allem bei der sozialen Gerechtigkeit. In den vergangenen Jahren, in denen ein ungezügelter Wirtschaftsliberalismus herrschte, ist eine Schieflage entstanden. In Tiflis erwecken kostspielige supermoderne Glitzerbauten – oft Werke italienischer Stararchitekten – den Anschein von Wohlstand und Prosperität. Doch wer die Hauptstadt hinter sich lässt, bekommt pure Armut zu sehen. Viele Gebäude in den Dörfern sind heruntergekommen, andere bereits aufgegeben, weil die bisherigen Bewohner ihr Glück in der Hauptstadt suchen.

    Die neue Regierung hat immerhin durchgesetzt, dass es seit kurzem eine allgemeine Krankenversicherung gibt, die freilich nur eine minimale Absicherung bietet. Wer zum Beispiel Geld für eine Operation benötigt oder nach einem Unwetter das Dach seines Hauses neu decken muss, dem bleibt nichts anderes übrig, als im Rathaus um Hilfe zu bitten. In der Stadt Telawi rund 70 Kilometer östlich von Tiflis haben die Bürger jetzt eine Anlaufstelle: Wer das Rathaus betritt, steht bereits vor dem Bürgerbüro. Bei diesem Pilotprojekt hat die deutsche Entwicklungshilfe Pate gestanden.

    Meist geht es um soziale Probleme. In Telawi ist die Bevölkerung immer noch damit beschäftigt, die großen Schäden zu beseitigen, die ein verheerender Hagelsturm vor Monaten angerichtet hat. Vor allem alte Menschen kommen an diesem Vormittag ins Bürgerbüro, um Zuschüsse zu Reparaturen zu beantragen. Wer sein Formular ausfüllt, das wird in Telawi neuerdings garantiert, erhält innerhalb von spätestens zehn Tagen den ersten Bescheid. Solche Bürgerbüros sollen jetzt in ganz Georgien eingerichtet werden.

    Doch die Bürger sollen sich auch aktiv an der Kommunalpolitik beteiligen. Zu diesem Ziel hat sich die Regierung mit der Ratifizierung der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung bekannt.

    Die praktische Umsetzung wird in dem kleinen Dorf Atura erprobt, das zur Kommune Telawi gehört und nur wenige Kilometer von der Kernstadt entfernt liegt. Es fehlt dort am Nötigsten. Asphaltiert ist gerade mal die Durchgangsstraße, alle anderen Wege sind übersät mit Schlaglöchern. Müllabfuhr und Abwasserbeseitigung gibt es nicht.

    Doch was erwarten die Einwohner am dringendsten von ihrer Kommune? Wofür soll sie ihr Geld im Haushalt vorrangig einsetzen? Die junge georgische Sozialwissenschaftlerin Liza Sopremadze hat den Dialog zwischen den Bürgern und den kommunalen Finanzbeamten organisiert. „Das Ergebnis hat mich überrascht“, gesteht sie. Denn die Einwohner sprachen sich mit großer Mehrheit nicht für teure Infrastrukturprojekte aus, sondern für die Renovierung des Kindergartens und die Aufbesserung des Salärs der dort tätigen Erzieherinnen.

    Der Kindergarten befindet sich in der Tat in erbärmlichem Zustand. Von den Wänden blättert der Putz, im Holzboden befinden sich gefährliche Stolperfallen und als Heizung dient eine gusseiserne Brennkammer mit angeschlossenem Ofenrohr. Aber die Kinder werden von den strengen Erzieherinnen gut betreut, erhalten um 11 und um 14 Uhr jeweils eine Mahlzeit und dürfen malen und musizieren. 55 Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren werden betreut, früher waren es auch schon mal 140. „Aber seit die Eltern etwas bezahlen müssen, werden nicht mehr so viele Kinder zu uns gebracht“, sagt Kita-Chefin Tamara. Die Gebühr beträgt umgerechnet sechs Euro im Monat.

    Das Projekt Bürgerbeteiligung, an dem auch die deutsche GIZ mitwirkt, hat bereits zu ersten Erfolgen geführt: Der Stadtrat hat das Gehalt der Kindergärtnerinnen um 30 Prozent erhöht. Und die Renovierung der Kita ist jetzt auch ganz offiziell als Priorität eingestuft.

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