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„Gelbwesten“: Wie Emmanuel Macron den Volkszorn besänftigen will

„Gelbwesten“

Wie Emmanuel Macron den Volkszorn besänftigen will

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    Emmanuel Macron will wieder Vertrauen zurückgewinnen, indem er Bürger - wie hier in Greoux-les-Bains - zur Mitarbeit aufruft.
    Emmanuel Macron will wieder Vertrauen zurückgewinnen, indem er Bürger - wie hier in Greoux-les-Bains - zur Mitarbeit aufruft. Foto: Claude Paris, afp

    Gérald und Catherine, Hugo und Didier sind sich in einem Punkt absolut einig. Deshalb haben sie ihren Vorschlag auf einen gelben Post-it-Zettel geschrieben und an die Wand geklebt. Darauf steht jetzt: Das „administrative Mille Feuille“ gehört abgeschafft. Punkt. Konkreter ausgeführt wird das nicht, aber dieser Satz reicht, um lautstarke Zustimmung in der Gruppe hervorzurufen.

    Mille Feuille, die französische Gebäckspezialität, muss aufgrund ihrer diversen Blätterteig-Schichten, zwischen denen sich reichlich Konditorcreme befindet, oft für das vielschichtige Wirrwarr herhalten, das die französischen Verwaltungseinheiten kennzeichnet. Es erfordere zumindest den Besuch von ein bis zwei Elitehochschulen, bemerkt Gérald ironisch, um sich in den 18 Regionen, 101 Départements, 4039 Kantonen und mehr als 36000 Gemeinden des Landes zurechtzufinden und die jeweiligen Zuständigkeiten zu erfassen. Er selbst erfüllt diese Voraussetzung übrigens nicht: „Ich war nur Elektriker.“

    Weil ihn solche in seinen Augen „absurden Zustände“ bei aller Ironie doch ziemlich stören, sitzt der Rentner an diesem Abend im Vereinshaus von Nogent-sur-Marne, einem Vorort im Westen von Paris, und diskutiert mit etwa 30 anderen Bürgern darüber, wie sich die Organisation des Staates und des Öffentlichen Dienstes verbessern lässt. Soll er auch. Präsident Emmanuel Macron bezweckt das ja mit seiner „großen nationalen Debatte“, die er im Januar angestoßen hat und die noch bis Mitte März in vielen Städten und Gemeinden Frankreichs geführt wird. Der Abend hier gehört zu diesen Veranstaltungen.

    Macron reagiert damit auf die soziale Krise im Land, die durch die Protestbewegung der „Gelbwesten“ offenkundig geworden ist und durch Ausschreitungen am Rande der Demonstrationen schon zu eskalieren drohte. Das Gefühl, alles würde über ihre Köpfe hinweg entschieden, war ja eine der Antriebskräfte der „

    Macrons Plan lautet: Ärmel hoch, mit den Leuten reden, vor allem zuhören

    Emmanuel Macrons Kalkül lautet nun: Indem die Bürger miteinbezogen und zur konstruktiven Mitarbeit aufgerufen werden, sollen sie wieder Vertrauen in die Politik gewinnen. Und in ihn selbst. Denn der 41-Jährige, in den viele Franzosen einst große Hoffnungen gesetzt hatten, hat in den knapp zwei Jahren seiner Präsidentschaft enorm an Zustimmung eingebüßt. Seine Einschätzung damals im Wahlkampf, er sei quasi für das Präsidentenamt bestimmt und wolle wie Jupiter regieren, der römische König der Götter, ist ihm längst auf die Füße gefallen.

    Natürlich werden jetzt im Fernsehen vor allem Bilder von ihm gezeigt, wie er mal hier, mal da mit sportlich hochgekrempelten Hemdsärmeln mit Bürgern und Lokalpolitikern diskutiert und ihnen demonstrativ aufmerksam zuhört. Bilder des Kommunikationsprofis Macron, der den Kontakt zum Volk sucht – und das ihn eben als abgehobenen, arroganten „Jupiter“ zunehmend ablehnt. Als „Macron-Show“ verspotten seine Gegner deshalb die Auftritte und werfen ihm vor, bereits Wahlkampf für die Europawahl Ende Mai zu machen.

    Fakt ist aber auch: In den vergangenen zwei Monaten gab es überall im Land an die 6500 Bürger-Debatten, die meisten organisiert von Mitgliedern oder Sympathisanten von Macrons Partei La République en Marche (LREM). Und bei den meisten war Macron gar nicht vor Ort – also auch keine Kameras.

    Wie in Nogent-sur-Marne, wo der regionale LREM-Ableger gemeinsam mit Ehrenamtlichen Debatten zu den vier von Macron gesetzten Themenbereichen angeboten hat: Energiewende, demokratisches Engagement, Steuerpolitik und – wie an diesem Donnerstagabend – die Organisation des Staates und des Öffentlichen Dienstes. Statt im Plenum zu diskutieren, sitzen die Teilnehmer zunächst in Kleingruppen über Fragebögen, die die LREM zur Verfügung stellt, um den Gesprächen einen Rahmen zu geben. „Denken Sie, dass es zu viele Verwaltungsstufen in Frankreich gibt?“, lautet eine Frage. „Würden Sie sagen, dass Sie den Zugang zu allen öffentlichen Diensten haben, die Sie brauchen?“, eine andere. Didier wiegt den Kopf hin und her. „Wenn ich in Nogent einen Personalausweis beantrage, muss ich ihn in Perreux abholen. Die Steuerbehörden wiederum sitzen in Créteil, dabei waren sie früher hier. Wer soll das noch verstehen?“, fragt er.

    In kleineren Orten verschwinden Postbüros und Bahnschalter, klagt er weiter, mehr und mehr müsse man heute im Internet erledigen, bei Telefon-Hotlines hebe ohnehin keiner ab. „Wir erleben die Entmenschlichung unserer Gesellschaft.“ Zustimmendes Nicken in der Runde.

    Plötzlich merken viele: Die Nachbarn denken ganz ähnlich

    Vielleicht sitzen sie auch deshalb in diesem kahl eingerichteten Raum des Vereinszentrums statt zuhause auf dem Sofa – um gegen die Anonymität auch in einem Städtchen wie Nogent-sur-Marne anzukämpfen. Um zu realisieren, dass Nachbarn, die man bisher kaum kannte, ganz ähnlich denken. Diesen Effekt gibt es auch bei den „Gelbwesten“, die vom wiedergefundenen Gefühl der Solidarität erzählen, das sie bei Kundgebungen für mehr soziale Gerechtigkeit empfinden.

    Im Anschluss an die Diskussionen im kleinen Kreis stellt ein Wortführer jeder Gruppe deren wichtigsten Ideen vor und notiert sie auf Zetteln, die er an die Wand klebt. Darauf fordern die Menschen – neben der Abkehr vom „administrativen Mille Feuille“ – dann so Dinge wie die Abschaffung des Senats als relativ machtlose zweite Parlamentskammer oder mobile Hilfen für den Online-Kontakt mit den Behörden, die vor allem Senioren zugutekommen sollen. Am Schluss stimmen alle Teilnehmer darüber ab, welche Ideen von den Organisatoren auf die Internet-Seite der „Großen Debatte“ gestellt werden. „Es herrscht ein echtes Bedürfnis der Leute, ihre Meinung zu äußern“, resümiert Olivier Gréhan, einer der ehrenamtlichen Organisatoren des Abends.

    Freilich stehen jene, die sich an den Debatten beteiligen, der Regierung tendenziell nahe und gehören selten zu den rebellischen „Gelbwesten“, die immer noch jeden Samstag demonstrieren. Die nämlich lehnen die staatlich organisierten Diskussionsrunden ab.

    „Im Prinzip bin ich für Debatten, aber gegen solche Treffen, wo Macrons Freunde unter sich bleiben und von vorneherein mit ihm einverstanden sind“, sagt Jérôme Rodrigues, einer der Wortführer der „Gelbwesten“, der bei einer Kundgebung vermutlich durch ein Gummigeschoss der Polizei ein Auge verlor. Rodrigues ruft weiter zum Kampf auf – für eine höhere Kaufkraft, niedrigere Steuern und inzwischen auch für eine Absetzung Macrons. Er sei derjenige, kritisiert Rodrigues, der die

    Zur Wirklichkeit gehört allerdings auch, dass Woche für Woche die Zahl der „Gelbwesten“ auf zuletzt landesweit rund 40000 gesunken ist. Lange hatte eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung die Bewegung unterstützt, die sich im November zunächst aus Protest gegen steigende Steuern auf Diesel und Benzin gebildet hatte, längst jedoch für eine allgemeine Unzufriedenheit in der Bevölkerung steht. Inzwischen aber wünschen sich zwei von drei Franzosen deren Ende.

    Zu ihnen dürfte auch Emmanuel Macron gehören. Nachdem er zu Beginn seiner Amtszeit noch mit Leichtigkeit zu regieren schien und auch dank der LREM-Mehrheit in der Nationalversammlung seine Projekte schnell und kompromisslos umsetzen konnte, geriet er durch die „Gelbwesten“ massiv unter Druck. Und er reagierte.

    Präsident Macron hat Fehler eingeräumt

    Seine Regierung setzte den geplanten Anstieg der Ökosteuer auf Kraftstoff aus und entlastete einen Teil der Rentner von steigenden Sozialabgaben. Schließlich kündigte Macron sogar eine Erhöhung des Mindestlohns an, was die Staatskasse nun mit zehn Milliarden Euro belastet und das Ziel für 2019 zunichtemacht, die Neuverschuldung gemäß des Maastricht-Kriteriums auf unter drei Prozent der Wirtschaftsleistung zu drücken. Dabei wollte sich der Staatschef gerade im Jahr der Europawahl gegenüber den anderen EU-Ländern als solide wirtschaftender Partner präsentieren.

    In diesem Jahr stehen Reformen der Arbeitslosenversicherung mit schärferen Kontrollen von Jobsuchenden sowie des Rentensystems an. Doch zunächst hat die Beruhigung der Lage Priorität. Allmählich steigen Macrons Zustimmungswerte wieder leicht auf das Niveau von vor der „Gelbwesten“-Krise, also auf rund 25 Prozent. Er selbst räumte gegenüber Journalisten ein, er habe das Ausmaß der Wut im Land unterschätzt: „Es ist ein riesiges kollektives Scheitern und ich übernehme meinen Teil der Verantwortung“, sagte er. „Aber ich habe noch drei Jahre, um das zu ändern.“

    Die Regierung hat versprochen, aus den zigtausenden Vorschlägen, die aus den Debatten hervorgehen und teilweise ins Internet gestellt werden, Schlüsse zu ziehen. Darauf wird es ankommen, wenn es darum geht, ob Emmanuel Macron dauerhaft wieder an Glaubwürdigkeit gewinnt. Noch scheint unklar, ob und wie beispielsweise auf die populäre Forderung nach mehr Volksbefragungen eingegangen wird. Oder inwiefern sich das „administrative Mille Feuille“ entblättern und vereinfachen lässt.

    Das erwartet man nicht nur in Nogent-sur-Marne.

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