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Gedenkstunde: Marcel Reich-Ranicki: Bewegende Rede im Bundestag

Gedenkstunde

Marcel Reich-Ranicki: Bewegende Rede im Bundestag

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    Bundespräsident Christian Wulff (l.) und der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Andreas Voßkuhle (r), geleiten Marcel Reich-Ranicki nach dessen Rede, zu seinem Platz im Plenum. Foto: Wolfgang Kumm dpa
    Bundespräsident Christian Wulff (l.) und der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Andreas Voßkuhle (r), geleiten Marcel Reich-Ranicki nach dessen Rede, zu seinem Platz im Plenum. Foto: Wolfgang Kumm dpa

    Marcel Reich-Ranicki erinnert sich noch an jedes Detail. Der Tag, an dem er seiner Mitarbeiterin Gustawa Jarecka das Todesurteil für Tausende von Warschauer Juden diktierte, war der 22. Juli 1942. Er selbst, ein junger Mann von 21 Jahren, hatte soeben auf Geheiß der SS neue „Eröffnungen und Auflagen“ protokollieren müssen, die an Deutlichkeit wenig zu wünschen übrig ließen: Alle Juden der Stadt seien „nach Osten“ umzusiedeln, ausgenommen die, die noch arbeitsfähig waren oder, wie er als Dolmetscher, von den Deutschen gebraucht wurden, dazu noch deren Ehefrauen und Kinder. Gustawa Jarecka, der Reich-Ranicki anschließend den Text des Erlasses ins Polnische übersetzte, tippte genau diese Passage gerade in ihre Maschine, als sie ihm, ohne aufzusehen, schnell und verschwörerisch leise riet: „Du solltest Tosia noch heute heiraten.“

    Reich-Ranicki erinnert an Gräuel des NS-Regimes

    Fast 70 Jahre später sitzt Marcel Reich-Ranicki vor dem Bundestag und erzählt noch einmal, mit welcher systematischen Skrupellosigkeit die Nazis die größte jüdische Siedlung in Europa entvölkerten und wie knapp er damals dem Tod entging. „Nach Osten“ war schließlich nur ein Synonym für das Konzentrationslager Treblinka, und die Zahl, die die SS dem Obmann des Warschauer Gettos, Adam Czerniakow, täglich vorgab, keineswegs willkürlich gewählt. Mal sollte der 6000 Juden zum Bahnhof schicken, mal 7000, gelegentlich sogar 10 000. „Allem Anschein nach“, sagt Reich-Ranicki, „hing das von der Anzahl der jeweils zur Verfügung stehenden Viehwaggons ab, sie sollten unbedingt ganz gefüllt werden.“

    Langes Schweigen im Bundestag

    Seine Tosia, die er damals gerade noch rechtzeitig vor ihrer Deportation geheiratet hat, ist im April gestorben. Eineinhalb Jahre hätten die beiden sich versteckt, betont Bundestagspräsident Norbert Lammert, der Reich-Ranicki als Redner zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus eingeladen hat. „Ihr Schicksal“, sagt er zu ihm, „steht stellvertretend für das von Millionen Menschen.“ Für die aktuelle Politik soll es darüber hinaus auch eine Mahnung sein: Die Mordserie der Zwickauer Terrorzelle zeige schließlich gerade, warnt Lammert, dass ein Ziel in Deutschland noch immer nicht erreicht sei: dass alle hier „frei und gleich und ohne Angst“ leben könnten.

    Reich-Ranicki ist zwar gesundheitlich erkennbar angeschlagen und wird von Bundespräsident Christian Wulff und Andreas Voßkuhle, dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes sanft zum Rednerpult und später wieder zurück geführt. Umso eindringlicher aber ist das, was der 91-Jährige mit schleppender, teilweise nur noch schwer zu verstehender Stimme aus jenen Tagen im Juni 1942 berichtet.

    Er erzählt von den Wachposten, die nur eine Aufgabe gehabt hätten, nämlich Furcht und Schrecken zu verbreiten, und von den Befehlen, die er zu übersetzen hatte und die häufig refrainartig mit der immer gleichen Drohung endeten, wer sie nicht befolge, „wird erschossen“. Und er erzählt, wie Adam Czerniakow, der Obmann des Gettos, nach wenigen Wochen an sich selbst verzweifelte. „Sie verlangen von mir, mit eigenen Händen die Kinder meines Volkes umzubringen“, schrieb er, ehe er sich mit einer Kapsel Zyankali das Leben nahm. „Ich bin machtlos, mir bricht das Herz vor Trauer und Mitleid. Länger kann ich das nicht ertragen.“

    Marcel Reich-Ranicki mit bewegender Rede im Bundestag

    Nachdem Reich-Ranicki sich wieder gesetzt hat, bleibt es lange still im Bundestag. Was die Umsiedlung der Juden aus dem Warschauer Getto genannt wurde, hat er zum Schluss gesagt, „war bloß eine Aussiedlung – die Aussiedlung aus Warschau. Sie hatte nur einen Zweck: den Tod.“

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