Die junge Frau nimmt sich auf einer „Querdenken“-Demonstration in Hannover das Mikrofon. Sie steht abends auf einer Bühne, sagt: „Ja hallo, ich bin Jana aus Kassel, und ich fühle mich wie Sophie Scholl, da ich seit Monaten aktiv im Widerstand bin.“ 22 Jahre alt sei sie, genauso alt wie Scholl, als diese den Nationalsozialisten zum Opfer gefallen sei.
„Jana aus Kassel“ wurde zum Inbegriff für die gegenwärtige Vereinnahmung und Instrumentalisierung von Sophie Scholl und der Widerstandsgruppe Weiße Rose. Bundesaußenminister Heiko Maas twitterte: Wer sich heute mit Scholl vergleiche, verhöhne den Mut, den es gebraucht habe, Haltung gegen Nazis zu zeigen. „Das verharmlost den Holocaust und zeigt eine unerträgliche Geschichtsvergessenheit. Nichts verbindet Coronaproteste mit Widerstandskämpfer*Innen. Nichts!“
"Jana aus Kassel" sagt auf der "Querdenken"-Bühne, sie fühle sich aktiv im Widerstand
Sophie Scholl war jünger als Jana aus Kassel, als NS-Richter Roland Freisler sie zum Tode verurteilte und das Urteil gegen sie, ihren Bruder Hans sowie Christoph Probst am selben Tag vollstrecken ließ, am 22. Februar 1943 in München. Damit endete ihr kurzes Leben, das am 9. Mai 1921 in Forchtenberg, Baden-Württemberg, begonnen hatte. Sie ist unvergessen geblieben und vielleicht präsenter als je zuvor.
Nach ihr sind Schulen in Deutschland und sogar ein Gymnasium in Italien benannt, Straßen sowie eine Ulmer Straßenbahn. Seit 2003 steht eine Büste von ihr aus weißem Marmor in der Walhalla nahe Regensburg, jenem Tempel prägender Persönlichkeiten. Jakob Fugger, Martin Luther, Friedrich der Große, Goethe, Schiller, Mozart, Einstein. Scholl. Zu ihrem 100. Geburtstag gibt die Bundesregierung eine 20-Euro-Gedenkmünze heraus. Eine Briefmarke zeigt sie mit gesenktem Kopf, darüber der Satz: „So ein herrlicher, sonniger Tag, und ich soll gehen. Was liegt an meinem Tod, wenn durch unser Handeln Tausende von Menschen aufgerüttelt und geweckt werden.“
Sophie Scholl – eine mutige Frau, die sich als Identifikationsfigur eignet. Und als Projektionsfläche.
Dass sich Jana aus Kassel mit ihr vergleicht, ist bizarr. Sie muss auf der „Querdenken“-Demo nicht um ihr Leben fürchten, wenn sie ihre Meinung zu den staatlichen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus öffentlich äußert. Die Demokratie lässt dies zu, solange sie damit nicht gegen Gesetze verstößt. Sophie Scholl dagegen wurde im Strafgefängnis Stadelheim mit der Guillotine enthauptet, nachdem sie in der Münchner Universität Flugblätter ausgelegt und in den Lichthof geworfen hatte.
Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete meint, Sophie Scholl wäre heute bei der Antifa
Ebenso bizarr ist es, wenn sich Carola Rackete, Sea-Watch-Kapitänin und linke Politaktivistin, auf Scholl beruft. Würde diese heute leben, twitterte Rackete, wäre sie Teil einer lokalen Antifa-Gruppe. Da sei sie sich „ziemlich sicher“. „Querdenken“ oder Rechtsextreme auf der einen, die „Antifa“ (Antifaschistische Aktion) und damit Linke bis Linksextreme auf der anderen Seite – das ist die Spannweite der Scholl-Wahrnehmung.
Ganz oben auf dem Bücherregal hinter Michael Blume steht ein Kreuz. Der 44-Jährige aus Filderstadt bei Stuttgart ist evangelischer Religionswissenschaftler. Gefragt ist er bundesweit als Experte für Verschwörungsmythen und in seiner Funktion als Antisemitismusbeauftragter der baden-württembergischen Landesregierung. Blume sitzt zum Videointerview am heimischen Schreibtisch. Homeoffice in Pandemiezeiten. Von einem Regal über seinem Computer holt er mit einem Griff ein Buch, der Einband in leuchtendem Blau und Gelb: Roland Baaders „Die belogene Generation. Politisch manipuliert statt zukunftsfähig informiert“. Seit den 1990ern schon werde unsere Demokratie mit der NS-Diktatur gleichgesetzt, auch von Menschen, die sich als Mitte der Gesellschaft verstanden hätten, sagt Blume. Zum Beispiel von dem Volkswirt Baader, der jungen Leuten empfohlen habe, Widerstand zu leisten. Auch der Missbrauch des Gedenkens an Sophie Scholl in der „Querdenken“-Bewegung sei älter als der Auftritt von Jana aus Kassel im vergangenen November.
So wird Sophie Scholl am 9. Mai gedacht
Sophie Scholls Geburtsstadt Forchtenberg erinnert am Sonntag mit Gottesdiensten und Lesungen an Sophie Scholl. Um 17 Uhr beginnt im Rathaus eine Gedenkveranstaltung, bei der Maren Gottschalk aus ihrer Scholl-Biografie liest.
Auch in der Stadt Ulm, in die Sophie Scholl 1932 mit ihrer Familie zog, gibt es am Sonntag eine Reihe von Veranstaltungen, darunter einen Vortrag samt Podiumsdiskussion mit Scholl-Biografin Barbara Beuys, der ab 11 Uhr als Livestream unter www.theater-ulm.de übertragen wird. Zuvor findet um 10 Uhr ein Festgottesdienst in der Martin-Luther-Kirche statt – sowie ein weiterer um 18 Uhr im Ulmer Münster.
In München ist unter anderem eine Gedenkperformance auf dem Königsplatz geplant, bei der 100 Mädchen und junge Frauen am 100. Geburtstag Sophie Scholls 100 Minuten lang betont ruhig ein Zeichen setzen wollen. (wida)
Blume erklärt, bei „Querdenken“ handele es sich um eine „Querfront“ – um Menschen aus dem linken wie rechten Spektrum. Und um viele, die von sich selbst eben sagten, sie seien aus der „Mitte der Gesellschaft“, bürgerlich und freiheitlich. Nur: Auch in dieser Mitte gebe es Verschwörungsmythen und Antisemitismus, so Blume, und diese verstärkten sich in digitalen Blasen oder auf Demos. „Wer sich auf so eine Querfront einlässt, wird Teil von ihr – ob man will oder nicht.“
Scholls Neffe Julian Aicher spricht bei "Querdenken"-Veranstaltung und bekommt eine weiße Rose
Sophie Scholls Neffe Julian Aicher stand am 22. August 2020 in Forchtenberg, der Geburtsstadt Scholls, auf einer „Querdenken“-Bühne. Weißes Hemd, dunkles Sakko. Ein Video davon findet sich auf Youtube. „Ich bin hier, weil ich mir Sorgen mache, weil ich Angst habe davor, dass unsere Grundrechte dauerhaft eingeschränkt und zum Teil sogar abgeschafft werden“, sagte er. Und da sei er nicht das einzige Mitglied von Familien, die Widerstand geleistet hätten. Es freue ihn, dass er zuvor an einem Gottesdienst habe teilnehmen dürfen – mit einem Pfarrer, der noch die DDR erlebt habe „und deshalb einem sagen konnte, wie man umgeht mit und in einer Diktatur und trotzdem überlebt“.
Seit Mai 2020 sei er bei einem runden Dutzend öffentlicher Versammlungen für die Grundrechte ans Mikrofon getreten, schreibt Aicher in einer E-Mail. „Bei keiner dieser Veranstaltungen habe ich irgendwelche Leute gesehen, die durch ihre Äußerungen, Plakate oder Zeichen auf rechtsradikales Gedankengut hinwiesen.“ Bei seinen Ansprachen sehe er sich in der Tradition seiner Mutter Inge Aicher-Scholl, Verfasserin des Buches „Die Weiße Rose“ über den Anti-Nazi-Widerstand der studentischen Gruppe um ihre Geschwister Hans und Sophie Scholl. Seine Mutter sei seit den frühen 60ern für Grundrechte und gegen Atomkrieg und Atomkraft aufgetreten.
Nach seiner Rede in Forchtenberg wurde Julian Aicher auf der Bühne eine weiße Rose überreicht. Dort sagte Aicher auch, die Bundesrepublik Deutschland sei nicht das Dritte Reich. Ein paar Monate später wird er in einem Interview aus der Sportpalastrede von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels am 18. Februar 1943 zitieren: Das Judentum stelle eine infektiöse Erscheinung dar, die ansteckend wirke. „Das Framing der Propaganda“ sei „zum Teil gleich geblieben“, wird er sagen. Den Leuten, die heute in den Abteilungen säßen, in denen die Propaganda zusammengerührt werde, „bei der Tagesschau oder so“, sei seit 70 Jahren nicht so wirklich was Neues eingefallen. Am 18. Februar 2021 trat er bei einer Demo am Geschwister-Scholl-Platz in München auf. Es war auch jener Tag, an dem 78 Jahre zuvor Hans und Sophie Scholl verhaftet worden waren. Aicher hatte eine weiße Rose am Revers. Gegendemonstranten bezeichnete er als „Mob“, der „SA-mäßig“ dazwischen brülle. Michael Blume spricht in solchen Fällen von einer „Selbstradikalisierung“.
Politiker sowie andere Neffen Sophie Scholls, darunter Julian Aichers Bruder Florian, distanzierten sich von dem 63-jährigen Wasserkraftwerksbetreiber und ÖDP-Kreistagsabgeordneten des Landkreises Ravensburg. Es bestehe keine Traditionslinie von „Querdenken“ zur Widerstandsgruppe Weiße Rose. In einer Erklärung schrieben sie vom durchsichtigen Versuch, „den Widerstand gegen eine menschenverachtende Diktatur in einer völlig anderen Konstellation für die eigenen Zwecke zu missbrauchen“. Sie schrieben von „historisch-politischer Erbschleicherei“.
Sophie Scholl wird häufig auch ein Zitat zugeschrieben, das selbst Hildegard Kronawitter, frühere bayerische SPD-Landtagsabgeordnete und Vorsitzende der Weiße-Rose-Stiftung, unbekannt ist: Der größte Schaden entstehe durch die schweigende Mehrheit, die nur überleben wolle, sich füge und alles mitmache. „Selbst wenn das Zitat stimmen würde, wäre es immer noch eine vollkommene Verzerrung, es auf hiesige Verhältnisse anzuwenden“, heißt es auf der Homepage der Stiftung.
Sophie Scholl war lange fasziniert vom Nationalsozialismus
Doch wer war die in Ulm aufgewachsene Sophie Scholl? Silvester Lechner, ehemaliger Leiter des Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg in Ulm, der die Schwestern von Hans und Sophie – Inge Aicher-Scholl und Elisabeth Hartnagel – kannte, nennt sie nach intensiver beruflicher Beschäftigung eine „einzigartige Persönlichkeit ihrer Zeit“. Sie habe zum richtigen Zeitpunkt das Richtige getan. „Dass sie auch heute unbequem wäre, darüber muss man sich klar sein.“ Lechner warnt vor Vereinnahmung. „Wenn sich Leute, die sich in der Pandemie eingeengt fühlen, auf den Widerstand von Hans und Sophie Scholl gegen den Nationalsozialismus beziehen, dann ist das völlig aus der Luft gegriffen und daneben. Quatsch ist es“, sagt er verärgert.
Sophie Scholl ist selbst für ihre Biografen schwer fassbar, ihr Lebensweg dagegen ist weitgehend bekannt: die frühen Jahre in Forchtenberg, die kurze Zeit in Ludwigsburg, der Umzug der siebenköpfigen Familie nach Ulm im Jahr vor der Machtergreifung Adolf Hitlers.
In Ulm lebten sie am Michelsberg, dann in einem Haus an der Olgastraße, später am Münsterplatz. Zeitzeugen zeichnen das Bild eines sozial denkenden und uneitlen, manchmal übermütigen Mädchens, das gern lachte und in der Donau schwamm – und als einzige bei der Konfirmation 1937 in der Ulmer Pauluskirche das Braunhemd trug. Scholl war lange vom Nationalsozialismus fasziniert, wie ihre Geschwister. 1934 trat sie in den Bund Deutscher Mädel – das Pendant zur Hitlerjugend – ein, 1935 war sie Scharführerin. Zugleich beschäftigte sie sich mit Religion. Sie ist wesentlich vielschichtiger, wesentlich schwerer zu begreifen als ihre reinweiße Marmorbüste in der Walhalla.
Einen außergewöhnlichen Einblick in ihr Denken und Fühlen ermöglicht ihr Briefwechsel mit ihrem Freund und Verlobten Fritz Hartnagel. Der hatte 1936 die Offizierslaufbahn eingeschlagen, 1937 – da war sie 16 – lernten sie sich kennen. In den Briefen, die sie sich schrieben, erscheint Scholl als lebenslustige junge Frau. Sie sang, las, rauchte, war kommunikativ, konnte aber auch still, ja introvertiert sein. Es plagten sie Selbstzweifel.
Als Studentin nach München kam sie im Frühjahr 1942. Welche Rolle sie in der Widerstandsbewegung hatte, sei nicht ganz klar zu erkennen, sagt ihr Neffe Thomas Hartnagel, der 2005 den Briefwechsel herausgab. Gesichert ist, dass sie eine wichtige Rolle spielte bei der Beschaffung von Geld und Material sowie der Verteilung und Versendung der Flugblätter, für die es auch Unterstützer in Ulm gab – unter anderem die Familie des Pfarrers Hirzel, die des verfemten Künstlers Wilhelm Geyer und eine Gruppe Abiturienten um Franz J. Müller, 1987 einer der Gründer der Weiße-Rose-Stiftung. Sophie sei die Mutigste von allen gewesen, sagte Müller 2012, drei Jahre vor seinem Tod.
Antisemitismusbeauftragter Michael Blume sagt: Es ist attraktiv, sich Scholl und die Weiße Rose anzueignen
Bleibt die Frage: Warum wurde Sophie Scholl zur Identifikationsfigur und Projektionsfläche, nicht andere Mitglieder der Weißen Rose?
Erklärungsversuche. Wer sich mit Sophie Scholl identifiziere, immunisiere sich gleichsam gegen Kritik, sagt der Journalist Arnd Henze, der sich für das kürzlich erschienene Buch „Fehlender Mindestabstand. Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde“ mit Christen und deren Beteiligung an „Querdenken“-Demos befasste. Er weist darauf hin, dass die religiöse Rechte auch prominente Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus wie Dietrich Bonhoeffer lange vor Corona für ihren Kulturkampf gegen die liberale Demokratie vereinnahmt habe. „Wer die Widerstandsrolle zu besetzen geschafft hat, kann sie praktisch mit jedem Inhalt füllen“, sagt er.
Der Antisemitismusbeauftragte Michael Blume stimmt dem am heimischen Computer zu. „Sophie Scholl und die Weiße Rose sind Teil der bundesdeutschen Zivilreligion“, erklärt er. „Darunter fallen nicht viele Personen, Gruppen oder Symbole. Es ist daher sehr attraktiv, sich diese anzueignen und umzudeuten.“ Das geschehe gezielt, nicht zuletzt, weil es – auch mediale – Aufmerksamkeit bringe. Schließlich habe so etwas „maximales Provokationspotenzial“. Auch Jana aus Kassel glaube vermutlich, Opfer der staatlichen Corona-Politik zu sein und wähne sich wirklich im Widerstand. „Ich hoffe“, sagt Blume noch, „dass wir zu Sophie Scholls 100. Geburtstag eine ernsthafte Diskussion darüber führen, wie wir das Gedenken an sie und die Weiße Rose vor solchen Übergriffen schützen können.“
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