Wohl nie haben Wissenschaftler für Politik und öffentliche Diskussion eine wichtigere Rolle gespielt als in der Corona-Krise. Und selten ging es dabei kontroverser zu. Viele der Wissenschaftler, die sich prominent öffentlich äußern wie Christian Drosten, Melanie Brinkmann oder Hendrik Streeck, sehen sich Anfeindungen bis hin zu persönlichen Bedrohungen ausgesetzt. Einige haben überlegt, sich deshalb ganz aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen.
Und auch Politiker sind im Kreuzfeuer der Kritik für ihren Umgang mit wissenschaftlicher Beratung. Innenminister Horst Seehofer und seinem Staatssekretär Markus Kerber etwa wurde einseitige Besetzung eines informelles Expertenkreises vorgeworfen, der im März 2020 vorschlug, die Bevölkerung gezielt zu „schocken“, um die Zustimmung zu vorübergehenden Freiheitseinschränkungen zu erhöhen. Und CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet sah sich Anfang Juli nach einer Landtagsdebatte um seinen Corona-Expertenrat, in der er insistierte, dass Wissenschaft „immer auch Mindermeinungen“ habe, heftiger Kritik ausgesetzt. Laschet würde esoterische Minderheitenpositionen legitimieren.
Aus der Corona-Krise lernen für die Klima-Krise
Wir sollten der zunehmenden Polarisierung der Debatte um die Rolle von wissenschaftlicher Expertise entgegenwirken. Auch mit Blick auf andere Felder wie die Klimakrise, wo Wissenschaftler eine zentrale Rolle für Politik und öffentliche Diskussion haben, sollten wir Lehren ziehen, wie sich wissenschaftliche Unabhängigkeit und eine beratende Rolle gegenüber Politik und Öffentlichkeit besser verbinden lassen.
Erstens: Es kompromittiert wissenschaftliche Berater nicht unbedingt, wenn ihnen klar ist, dass ihr Rat gesucht wird, weil Politiker politisches Handeln in eine bestimmte Richtung legitimieren wollen. Sie können die eigene Beratungstätigkeit trotzdem nutzen, um Politiker besser zu informieren und ihren Blick für Handlungsoptionen zu schärfen. Klar muss den Wissenschaftlern dabei jedoch sein: Was in vielen Fällen von ihnen gefragt wird, sind Vorschläge für politisches Handeln. Diese können auf wissenschaftlicher Expertise beruhen, gehen meist jedoch deutlich darüber hinaus.
Nicht alle politischen Handlungsempfehlungen lassen sich in ihrer Wirksamkeit wissenschaftlich unterfüttern. Und selbst wo dies der Fall ist, bleibt immer ein normatives, nicht auf wissenschaftliche Evidenz rückführbares Element, das politisches Handeln unweigerlich mit sich bringt – sei es darüber, was das Ziel ist, oder wer oder was auf dem Weg dahin möglicherweise auf der Strecke bleiben darf. Viele der Fragen, die Forscher von Politikerinnen und Politikern oder Journalistinnen und Journalisten gestellt bekommen, zielen auf Antworten ab, die normative Wertungen enthalten – und gehen so weit über die objektive Faktenlage und gesicherte Forschungsergebnisse hinaus.
Versteckspiel: Die Politik schadet der Glaubwürdigkeit der Wissenschaft
Zweitens: Politik und Medien sollten bei komplexen politischen und gesellschaftlichen Fragen versuchen, eine Diversität von Stimmen aus der Wissenschaft zu hören. Dies heißt nicht, in die vermeintliche Falle einer „falschen Ausgewogenheit“ zu tappen, zumindest solange es sich um anerkannte Experten handelt. Viel gefährlicher ist es, wenn einzelne Medien einseitig oder polemisierend wissenschaftliche Expertise präsentieren. Die Bild-Zeitung tat dies bei ihren Inszenierungen von Titanenkämpfen zwischen verschiedenen Wissenschaftlern wie Drosten und Streeck. Der Spiegel wiederum mutierte in der Corona-Krise zum Sturmgeschütz der No-Covid-Bewegung.
Trauriger Tiefpunkt war die Entgleisung zweier Spiegel-Wissenschafsjournalistinnen, die im Gespräch mit Christian Drosten argumentierten: „Einen größeren Schaden als Corona-Leugner haben im vergangenen Jahr wohl Experten angerichtet, die immer wieder gegen wissenschaftlich begründete Maßnahmen argumentiert haben, zum Beispiel Jonas Schmidt-Chanasit und Hendrik Streeck.“ Dass die Führung des Spiegel sich noch öffentlich zu deren Äußerungen bekannte, untergräbt die Glaubwürdigkeit des Wissenschaftsjournalismus.
Drittens: Bescheidenheit und Selbstkritik sind wichtige Zutaten für eine bessere Debatte. Es hatte Stil, dass Karl Lauterbach und Hendrik Streeck jeweils dem anderen gegenüber Fehler eingestanden haben. Die meisten Wissenschaftler der No-Covid-Bewegung fallen hingegen durch eine argumentative Selbstimmunisierung auf nach dem Motto: „Hätten wir doch getan, was wir vorgeschlagen haben, wäre alles besser gewesen.“
Viertens: Die Rollen sollten klar verteilt sein. Wissenschaftler geben Empfehlungen, aber Politikerinnen entscheiden und sollten sich nicht hinter der Wissenschaft verstecken. Wenn von Politikern Einheitlichkeit der wissenschaftlichen Meinung suggeriert wird, um unbequeme Entscheidungen zu legitimieren, leidet die Glaubwürdigkeit von Wissenschaft und Politik.
Soziologe Bogner: Eine "rein wissensgesteuerte Politik" ist eine Illusion
Der Soziologe Alexander Bogner argumentiert zugespitzt: „Eine Politik, die sich – dank ihrer Übereinstimmung mit der Wissenschaft – als alternativlos versteht, provoziert eine Politik der alternativen Fakten.“ Der Schweizer Historiker Caspar Hirschi rät sehr treffend, dass „eine Demokratie dann am stärksten ist, wenn politische Entscheidungen so viel wie möglich auf wissenschaftliche Expertise gestützt sind und so wenig wie möglich mit ihr legitimiert werden.“
Bogner warnt vor der Illusion einer „rein wissensgesteuerten Politik“: „Selbst wenn wir zuverlässige Zahlen über die Infektiosität des Virus oder über das Ausmaß der globalen Erwärmung haben, so steckt in diesen Zahlen doch noch kein politisches Handlungsprogramm.“ Für die politische Auseinandersetzung um das „richtige“ Handlungsprogramm können Wissenschaftlerinnen wichtige Impulse liefern.
Wie das aktuelle Beispiel der Corona-Politik zeigt, funktioniert das am besten transparent, mit Offenheit für verschiedene Positionen und mit klarer Rollenverteilung zwischen Politik und Wissenschaft.
Der Autor: Thorsten Benner, 48, studierte Politik in Deutschland und USA. Er ist Mitbegründer und Direktor des Global Public Policy Institute (GPPi) in Berlin.