Die beste Nachricht zuerst: Die Entscheidung, sich impfen zu lassen, ist kein moralisches Dilemma, denn mit einer Impfung tut man sich selbst genauso etwas Gutes wie Anderen. Die Chancen-Risiko-Abwägung ist inzwischen angesichts von bislang 90.000 Corona-Toten in Deutschland und Erfahrung mit mehreren hundert Millionen Impfungen weltweit vollkommen klar. Nur nebenbei: Die kurz vor der Zulassung stehenden "konventionellen" Protein-Impfstoffe enthalten keine DNA oder RNA und sollten für Zögerer nun auch die letzten (sachlich unbegründeten, dies sage ich als mRNA-geimpfter Humangenetiker) Zweifel an der Sicherheit verfügbarer Impfstoffe ausräumen.
Ein wenig erinnert mich diese Diskussion an die Einführung der Anschnallpflicht vor gut 40 Jahren: Natürlich ist es nicht völlig unmöglich, dass jemand im Auto bewusstlos wird, in einen Fluss stürzt und dann wegen eines klemmenden Gurtes schlechter gerettet werden kann. Allerdings ist ein konventioneller Frontalaufprall vieltausendfach wahrscheinlicher. Genauso ist es mit Corona: Es ist vieltausendfach wahrscheinlicher, durch die Krankheit Schaden zu nehmen als durch die Impfung. Also ist es vernünftig, sich impfen zu lassen, und unvernünftig, sich nicht impfen zu lassen.
Die Politik hat sich selbst Fesseln angelegt
Aber nun die ethische und politische Frage: Darf der Staat Menschen ohne individuelle Begründung zu vernünftigem Verhalten verpflichten oder gar zwingen? Er dürfte es, urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erst vor wenigen Monaten. Er will es nicht, hat sich schon zum Anfang der Pandemie in seltener Einmütigkeit die gesamte deutsche Politik geäußert. Damit steht sie im Wort, und daran ist sie durch das Pfand ihrer Glaubwürdigkeit gebunden.
Jedoch, und nun meine persönliche Auffassung, endet für Personen in besonderer beruflicher Verantwortung das Recht auf individuelle Unvernunft am Anspruch der ihnen anvertrauten Menschen auf Schutz. Frage dazu: Dürfte jemand, der selbst nicht geimpft werden kann, von Staats wegen zum engen Kontakt mit Menschen gezwungen werden, die sich nicht impfen lassen wollen? Genau das steht uns nämlich nach den Sommerferien in manchen Fällen bevor: Kinder können noch nicht geimpft werden, unterliegen der Schulpflicht und haben keine freie Lehrerwahl. Selbstverständlich sind nach Bekunden der Lehrerverbände gut 90 Prozent ihrer Mitglieder geimpft. Löblich und gut, aber auch die restlichen 10 Prozent tragen eine selbstgewählte Verantwortung. Dasselbe gilt für Personal in Medizin und Pflege: Auch hier sind die meisten geimpft, aber eine kleine Minderheit kann eine tödliche Gefahr für alte und vorerkrankte Menschen sogar trotz deren Impfung darstellen.
Auch für Taxifahrer sollte es eine Impfpflicht geben
Bei einer streng berufsbezogenen Impfpflicht handelt es sich ethisch und rechtlich betrachtet nicht um eine Diskriminierung, denn diese ist als ungerechtfertigte Ungleichbehandlung definiert. Die Rechtfertigung besteht darin, dass Menschen, die für Andere professionelle Verantwortung übernehmen, sich stärker als die Allgemeinheit in die Pflicht nehmen lassen müssen. Das verschiedentlich vorgetragene Gegenargument, man habe zum Zeitpunkt der Berufswahl ja noch keine Pandemie erahnen können, greift nicht, denn eine Garantie für ein stress- und überraschungsfreies Berufsleben hat es noch nie gegeben. Das gilt für das Bildungswesen wie das Gesundheitswesen, aber aus meiner Sicht ebenso für den gleichermaßen durch professionelle Verantwortungsübernahme gekennzeichneten öffentlichen Personenverkehr. Konkret: Eine Krebspatientin sollte sich darauf verlassen können, dass der Taxifahrer, der sie zur Chemotherapie bringt, sie nicht unnötig gefährdet. Gemäß dem Personenbeförderungsgesetz darf er ja auch nur zugelassen werden, wenn die Sicherheit des Betriebes gewährleistet ist. Ohnehin ließe sich eine berufsbezogene Impfpflicht zum großen Teil über die sinnvolle Anwendung bereits bestehender Vorgaben des Arbeits- und auch des Beamtenrechts realisieren.
Aber schon diesseits solcher Regelungen haben die zu schützenden Menschen und ihre Familien einen Anspruch darauf, zu erfahren, an wem sie sind. Wer nicht fragt, bleibt dumm: Alle Eltern dürfen und sollten die Lehrerinnen und Erzieher ihrer Kinder fragen, ob sie geimpft sind. Die allermeisten werden antworten "Ja, selbstverständlich", mit dem Erfolg eines beiderseits gestärkten Vertrauens. Jede andere Antwort, auch ein Verweis auf den Datenschutz, dürfte nach der Lebenserfahrung einem "Nein" gleichkommen. Und damit der zumindest moralischen Pflicht, sich rechtfertigen zu müssen. Alle haben ihren Teil dazu beizutragen, dass ein Kind nach der Schule guten Mutes die kranke Uroma besuchen kann. In einem besonders sensiblen Bereich des Berufslebens muss aus meiner Sicht Transparenz notfalls sogar rechtlich eingefordert werden: Es darf nicht sein, dass eine hochgefährdete Patientin nicht erfährt, ob die zu ihr ins Haus kommende Pflegeperson ihre Impf-Verantwortung wahrgenommen hat oder als ambulanter Superspreader unterwegs ist. Patientenschutz muss hier vor Datenschutz gehen, mit Stigmatisierung hat das nichts zu tun.
Zur Person: Wolfram Henn ist Humangenetiker und Medizinethiker an der Universität des Saarlandes. Er ist seit 2013 stellvertretender Vorsitzender der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer und seit 2016 Mitglied des Deutschen Ethikrates.