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Gastbeitrag: "Am Ende ist es immer persönlich": Eugen Baer über Covid und Trauer

Gastbeitrag

"Am Ende ist es immer persönlich": Eugen Baer über Covid und Trauer

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    Nach monatelangen Versuchen, das Virus zu bezwingen, werden unsere privaten und öffentlichen Räume mit Geschichten der Trauer und des Verlustes bombardiert.
    Nach monatelangen Versuchen, das Virus zu bezwingen, werden unsere privaten und öffentlichen Räume mit Geschichten der Trauer und des Verlustes bombardiert. Foto: stock.adobe.com

    Trauer, so schmerzhaft sie sein mag, wird oft von begleitet von verschiedenen Unterstützungsnetzwerken, die uns helfen können, die schwersten Zeiten unseres Lebens zu überstehen.

    Manche dieser Netzwerke sind traditioneller oder sogar institutioneller Natur, etwa Nachlassregelungen oder das Erbrecht; Beerdigungsriten, Trauerfeiern und Begräbnisse; öffentliche Todesanzeigen; Lebensversicherungen; Sozialleistungen; das Verlesen des Testaments; durch den Tod ausgelöste Arbeitslosenleistungen etc. Glücklicherweise gibt es für viele von uns diese Art Leistungsansprüche in der Zeit, in der wir am tiefsten getroffen sind; viele andere haben dazu keinen Zugang.

    ist emeritierter Professor für Philosophie und ehemaliger Dekan des Hobart College.
    ist emeritierter Professor für Philosophie und ehemaliger Dekan des Hobart College. Foto: Jelka von Langen

    Unsere privaten und öffentlichen Räume werden mit Geschichten der Trauer und des Verlustes bombardiert

    Seit einem Jahr jedoch finden wir uns inmitten einer tödlichen globalen Pandemie wieder und es ist unmöglich, das menschliche Leid, das durch Krankheit und tragische Todesfälle ausgelöst wird, zu ignorieren. Während ich diesen Text verfasse, haben sich bereits über 90 Millionen Menschen mit dem neuartigen COVID-19-Virus angesteckt, was zu weltweit fast zwei Millionen Toten geführt hat.

    Als Resultat davon hat das schiere Ausmaß des Todes auf einzigartige Weise die Art kompliziert, wie wir trauern, nicht nur als Individuen und Familien, sondern auch als Gemeinschaften, Staaten und sogar Nationen.

    Nach monatelangen Versuchen, das Virus zu bezwingen, werden unsere privaten und öffentlichen Räume mit Geschichten der Trauer und des Verlustes bombardiert, deren Wirkung wir sowohl persönlich wie auch emphatisch spüren.

    Und während so viele dieser Geschichten erzählt und gehört werden, realisieren wir, dass die Pandemie uns gezwungen hat, mit unseren großen Verlusten umzugehen, ohne dass wir Zugang zu den strukturellen Unterstützungen haben, die ich oben erwähnt habe, aber auch ohne die umso mehr notwendigen und grundlegenden Elemente des Trosts, auf die wir uns verlassen, um Trauer zu überwinden: etwa Umarmungen, eine Schulter, um sich auszuweinen, Händehalten, die fortschreitenden Zeichen des Todes zu sehen, Abschiedsrituale, letzte Worte, Familienzusammenkünfte, die Trauer anderer zu sehen, Gespräche am Totenbett, Gruppentherapie etc.

    Gesundheitsfachkräfte laufen jeden Tag Gefahr, ihr Leben zu verlieren

    Wenn es eine Lektion gibt, die wir noch immer lernen, ist es die, dass zusätzlich zur Angst vor Ansteckung, Tod und Sterben, finanziellen Notlagen, Arbeitsplatzunsicherheit, Hunger und Obdachlosigkeit unser Gefühlsleben durch die ständige Beschäftigung mit COVID-19 großem Druck ausgesetzt ist.

    Die notwendigen sozialen Abstandsregeln wie die Begrenzung unsere sozialen Interaktionen, das Tragen von Gesichtsmasken, das gründlichen Händewaschen, die Desinfektion unserer Umgebung und die Vermeidung von Versammlung (inklusive religiöser Zusammenkünfte) werden schwer empfohlen oder sogar befohlen. Aber diese selben sozialen Abstandsregeln sind hauptsächliche Verursacher unserer Isolation und verschlimmern unsere Trauer.

    Trotz all dieser Regeln wird von Krankenpfleger*innen und anderen systemrelevanten Arbeiter*innen verlangt, dass sie ihre Sicherheit aufs Spiel setzen, um sich um die Bedürfnisse und Leben derer zu kümmern, die noch mehr gefährdet sind.

    Mit jedem Tag, der vergeht, laufen insbesondere Gesundheitsfachkräfte Gefahr, ihr Leben zu verlieren oder das Wohlergehen ihrer Familien zu gefährden. Und was noch schlimmer ist: Diesen Pflegenden bleibt wenig Zeit, um mit ihrer eigenen Trauer umzugehen oder sie auszudrücken, als Ersatz für die geliebten Menschen der Sterbenden in einem Meer der letzten Momente gestrandet.

    Meine Hoffnung ist, dass wir lernen können, dass wir lernen können, Trauerrituale zu entwickeln, die Trost spenden - auch auf gesellschaftlicher Ebene

    Wie gehen wir von hier aus weiter? Ich werde mir nicht anmaßen, dass ich wüsste, wie man solch maßlose Trauer überwinden kann, oder gar eine neue Liste von Stufen vorschlagen, die ein Individuum durchlaufen sollte, um Trauer zu erkennen und auszudrücken, vom Verarbeiten ganz zu schweigen.

    Aber ich würde gerne etwas Hoffnung anbieten, wenn auch lediglich, damit wir glauben können, dass COVID-19 nicht das letzte Wort zur Trauer haben wird. Meine Hoffnung ist, dass wir lernen können, Trauerrituale zu entwickeln, die Trost spenden - nicht nur für unsere private Trauer, sondern im Nachgang dieser Pandemie auch auf unsere gesellschaftliche.

    Ich bin zur Überzeugung gelangt, dass Trost und Heilungsrituale wirkungsvoller sind als Stufenmodelle, vor allem, da “normale” Trauermodelle, wie oben erwähnt, durch die Veränderungen, die das Virus verursacht, unmöglich geworden sind. Ich denke an

    Die Art von Trostritual, die auf der Religion fußt, ist zeitlos

    Oft gibt es zusammen mit dem unermesslichen Schmerz des Verlusts auch eine profunde Desorientierung der Person, die von der Trauer getroffen wird. Sie kann eine existentielle Krise auslösen, wie sie es für den jungen Augustinus tat. In seinen “Bekenntnissen” schreibt er, dass sich sein ganzes Leben veränderte, nachdem er unerwartet einen Freund an den Tod verlor.

    Er berichtet, dass nicht nur seine Welt zerbrach, sondern er auch jeglichen Sinn dafür verlor, wer er selbst war. Um dem zu begegnen, fing er an, sich auf Heilungsrituale zu verlassen, eine Wendung nach innen, Lesen, religiöse Besinnung und - was am wichtigsten war - die Suche nach einem persönlichen Gott, der ihn vor dem unaufhaltbaren Fluss der Zeit retten konnte.

    Diese Art von Trostritual, die auf der Religion fußt, ist zeitlos, und ich erwarte, dass viele Opfer des Coronavirus in diesem Rahmen nach Erlösung vom Schmerz und von den vielen unbeantworteten Fragen gesucht haben.

    Wie immer ist es wichtig anzumerken, dass Heilungsrituale in ihrer Vielfalt endlos sind, weil Trauer persönlich ist. Oft entstehen Rituale völlig spontan und unbewusst, während Menschen damit kämpfen, mit neuen Erinnerungen umzugehen, und lernen, ihre negativen Erinnerungen zu ignorieren, ohne ihre Lieben um sich zu haben.

    Im vergangenen Jahr habe ich immer und immer wieder den Ausspruch gehört “Erinnert euch, wir sind alle im selben Boot.” Und wenn es um die globale Pandemie geht, könnte dieser Schlachtruf nicht passender sein. Denken Sie darüber nach: Jedes Land auf Erden hat nun die geteilte Erfahrung - mit unterschiedlichem Erfolg -gemacht, mit Trauer und Verlust aller Art umzugehen.

    Dichterinnen und Dichter können eine spezielle Rolle dabei spielen, wenn es darum geht, Trauer und Heilung in Worte zu fassen

    Rituale der Heilung können so einfache Formen annehmen wie das Schreiben; und Dichter und Dichterinnen, wie wir gesehen haben, können eine spezielle Rolle dabei spielen, wenn es darum geht, Trauer und Heilung in Worte zu fassen, weil Worte den Wert des Wesenskerns der einzigartigen Realität jeder Person bekräftigen.

    Zum Schluss möchte ich Ihnen noch ein passendes Gedicht von Maya Angelou mit auf den Weg geben: “When Great Trees Fall” (“Wenn große Bäume fallen”), das als Metapher für private Trauer dient. Hier teile ich mit Ihnen, was man als letzte Stufe von Angelous Trauer sehen könnte, die den Anschein erweckt, hoffnungsfroher zu sein. Das Gedicht bildet meine Gedanken ab, mit denen man den Tod und das Sterben annehmen kann - dass die bloße Anwesenheit der verlorenen geliebten Person in meinem Leben genug Trost bietet:

    “. . .Und wenn große Seelen sterben,

    blüht nach einer Weile der Frieden,

    langsam und immer

    unregelmäßig. Räume füllen sich

    mit einer Art

    beruhigender elektrischen Vibration.

    Unsere Sinne, wiederhergestellt, niemals

    gleich, flüstern uns zu.

    Es gab sie. Es gab sie.

    Wir können sein. Sein und

    besser sein. Weil es sie gab.”

    Eugen Baer ist Senior Fellow am THE NEW INSTITUTE

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    The New Institute ist eine Neugründung in Hamburg, deren Ziel die Gestaltung gesellschaftlichen Wandels ist. Von Herbst 2021 an werden hier bis zu 35 Fellows aus Wissenschaft, Aktivismus, Kunst, Wirtschaft, Politik und Medien gemeinsam leben und an konkreten Lösungen für die drängenden Probleme in den Bereichen von Ökologie, Ökonomie und Demokratie arbeiten. Gründungsdirektor ist Wilhelm Krull, akademische Direktorin für den Bereich der ökonomischen Transformation ist Maja Göpel. The New Institute ist eine Initiative des Hamburger Unternehmers und Philanthropen Erck Rickmers.

    Alle bisher erschienenen Teile der Serie finden Sie auf unserer Übersichtsseite.

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