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G20: Gipfel der Gewalt: Warum griff die Polizei so spät ein?

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Gipfel der Gewalt: Warum griff die Polizei so spät ein?

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    Eine Nacht der Extreme: Polizeikräfte setzen im Hamburger Schanzenviertel Wasserwerfer gegen Demonstranten ein.
    Eine Nacht der Extreme: Polizeikräfte setzen im Hamburger Schanzenviertel Wasserwerfer gegen Demonstranten ein. Foto: Axel Heimken, dpa

    In der Nacht zum Samstag zertrümmert ein Mob aus hunderten schwarz vermummten Linksextremisten das Schulterblatt. Ausgerechnet das Schulterblatt. So heißt die Straße, die das Zentrum des linksalternativ geprägten Schanzenviertels in Hamburg bildet. Sie grenzt unmittelbar an das Messegelände, wo ein paar Stunden später der G20-Gipfel zu Ende gehen wird. Die Gegend rund um das seit 1989 besetzte frühere Theater „Rote Flora“ ist Ausschreitungen bei Demonstrationen gewohnt. Doch was dort nach Einbruch der Dunkelheit geschieht, ist ohne Beispiel.

    Gegen Mitternacht gerät die Lage außer Kontrolle. Barrikaden brennen, unablässig schleudern Randalierer Pflastersteine, Flaschen und Böller in Richtung der Polizeihundertschaften in Kampfmontur. Wasserwerfer spritzen in Richtung der Chaoten, Hubschrauber knattern über den Gassen. Mehr unternimmt die Polizei nicht – zunächst.

    „Warum tun die nichts, die ganze Schanze brennt“, kreischt eine Anwohnerin mit raspelkurzen Haaren und Piercings in Lippen, Nase und Ohren. Dass sie sich im Schanzenviertel ein schnelleres Eingreifen der Staatsmacht wünschen, ist alles andere als typisch. Doch diesmal fragen sich hier viele: Warum sieht die Polizei, die noch am Vortag nach ein paar Flaschenwürfen eine Großdemonstration beendet hat, nun dem zerstörerischen Treiben zu? Warum kann sich ein entfesselter Mob stundenlang in den Gassen des Viertels austoben? „Den Gipfel zu schützen, ist ein Ziel gewesen“, sagt Jörg Müller. „Aber Anwohnern die bürgerkriegsähnlichen Zustände zu überlassen, geht gar nicht.“

    Hätte die Gewalt verhindert werden können?

    Als Hamburg am Sonntag die Scherben zusammenkehrt und nur langsam realisiert, welches Chaos hier in den Tagen zuvor getobt hat, spielt auch diese Szene in die Frage hinein: Hätte dies alles verhindert werden können und war die Strategie für die mehr als 20000 Polizeibeamten richtig? Am Ende sind ja sogar Kräfte der Elite-Einheiten GSG9 und der österreichischen Cobra im Einsatz. Mit diesem Ausmaß an Gewalt habe niemand rechnen können, heißt es von vielen Seiten. Die Polizei habe sich eineinhalb Jahre vorbereitet und „alles Menschenmögliche an Vorkehrungen“ getroffen, sagt etwa der Hamburger Polizeipräsident Ralf Martin Meyer.

    Auch der Bundespräsident stellt sich vor die Beamten, als er gestern Vormittag ein Zeichen setzt. „Respekt und Anerkennung“ wolle er den Sicherheitsleuten erweisen, sagt Frank-Walter Steinmeier im Polizeipräsidium in Alsterdorf. Dann geht es weiter zum Bundeswehrkrankenhaus. Dort werden verletzte Polizisten behandelt. Einzelheiten erfährt man nicht. „Ganz herzlichen Dank“, schreibt Steinmeier ins Gästebuch, „für den Einsatz Ihrer Kolleginnen und Kollegen während des G20-Gipfels.“

    Manche Passanten wundern sich da noch immer über die Tatenlosigkeit der Polizei, als die Chaoten in der Nacht zum Samstag die Scheiben von Geschäften zertrümmern und die Waren davonschleppen. Livebilder im Fernsehen und Augenzeugen-Videos im Internet dokumentieren das Wüten. Ein Rewe-Markt, eine Filiale des Traditions-Drogeristen Bundnikowsky, eine Spielothek, aber auch eine Buchhandlung und andere kleine Läden werden verwüstet. Überall liegen Scherben. Ein Vermummter wirft einen Arm voll Spraydosen aus dem Drogeriemarkt ins Feuer. Meterhoch lodern die Stichflammen in den Nachthimmel.

    Den maskierten Autonomen folgen Mitläufer in die Läden, die sich nicht mal die Mühe machen, beim Plündern ihre Gesichter zu verbergen. Der Großteil hat es vor allem auf Alkohol abgesehen. Überhaupt: Wer ein friedliebender Demonstrant ist, wer ein Anwohner und wer ein gewaltbereiter Autonomer, das ist für die Polizei nur schwer zu erkennen. Mitglieder des gefürchteten „Schwarzen Blocks“ maskieren sich oft erst in letzter Sekunde vor einer Attacke mit Tuch, Kapuze und Sonnenbrille – und legen ihre Vermummung schnell wieder ab, um auf der Flucht in der Menge der Schaulustigen unterzutauchen.

    Trotz allem: Die Mehrheit demonstriert friedlich 

    Neben der Mehrheit friedlicher Demonstranten, die ein Zeichen für eine gerechtere Welt setzen wollen, und einer wenn auch stattlichen Minderheit höchst gewaltbereiter Extremisten sind unzählige schwierige „Zaungäste“ unterwegs. Die Polizei spricht von der Gruppe der „Erlebnisorientierten“, die nicht organisiert sind, mit Politik wenig am Hut haben, aber den Krawallen folgen, sich aufspielen, die Polizei provozieren, Parolen mitgrölen, die Straftäter anfeuern. „Ganz Hamburg hasst die Polizei“ tönt es selbst in tiefstem bayerischem Akzent.

    Viele Gaffer sind erkennbar betrunken oder stehen unter Einfluss anderer Drogen. Es herrscht eine bizarre Mischung aus Hass, Gewalt, Krawalltourismus und Partystimmung. Während Barrikaden aus Fahrrädern, Müllcontainern und Möbeln brennen, bauen sich junge Männer in Siegerpose vor Wasserwerfern auf, machen mit ihren Smartphones Selfies und lassen die Hosen herunter. Ist die Bierflasche leer, wird sie unter Gejohle in Richtung Polizei geworfen. Teenager im Abi-2017-Shirt jubeln, als aus dem Schwarzen Block Böller fliegen.

    Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bedankt sich am Sonntag bei den Polizisten für deren Einsatz.
    Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bedankt sich am Sonntag bei den Polizisten für deren Einsatz. Foto: Marcus Brandt, dpa

    Auf meterlangen Abschnitten hat der Bürgersteig keinen Belag mehr. Autonome haben die schweren Betonplatten und Pflastersteine in den Stunden zuvor weggeschafft. Was zu den Gründen führt, warum die Einsatzleitung in dieser Nacht mit der Räumung des größten Krawallherdes so lange zögert. Die Beamten rechnen offenbar damit, dass die Autonomen sie im Schulterblatt in eine Falle locken wollen.

    Die Chaoten haben die Platten und Steine auf mehrere Hausdächer geschleppt. Von ganzen Materiallagern, die Autonome für den Bau von Brandsätzen angelegt haben sollen, ist die Rede. Es gibt Hinweise, dass die Extremisten den Hinterhalt vorbereiten, während andere Militante die Polizei am nahen Pferdemarkt zur Ablenkung in Straßenschlachten verwickeln. Würden die Beamten unbedarft vorrücken, um die Plünderer an ihrem Werk zu hindern oder brennende Barrikaden zu löschen, würde von den umliegenden Hausdächern wahrscheinlich ein Hagel aus Stein und Feuer auf sie niedergehen. Aus diesem Grund, so heißt es, wird weiterer Sachschaden in Kauf genommen, um die Gesundheit von Beamten zu schützen.

    Auch die schwer bewaffneten, für den Häuserkampf ausgebildeten Spezialkräfte müssen erst an den Einsatzort verlegt werden. Sie stürmen schließlich die mehrstöckigen Gebäude, in denen sich die Chaoten verschanzt haben, und nehmen mehrere Personen fest.

    Am Ende erwirkt die Polizei etwa drei Dutzend Haftbefehle. Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz fordert „sehr hohe Haftstrafen“. Die Erfahrung von früheren Gipfeln zeigt allerdings: Den Extremisten im heillosen Chaos der Ereignisse juristisch beweisbare Taten zuzuordnen, wird extrem schwierig sein.

    Als jenes Chaos seinen Höhepunkt erreicht, haben im Internet unzählige Handyvideos längst die Runde gemacht. Sie zeigen, wie marodierende Horden durch Wohngebiete ziehen, Scheiben einwerfen und Autos anzünden – bei Limousinen der Oberklasse wie bei Kleinwagen. In manchen Straßen wird kaum ein Fahrzeug verschont, in bürgerlichen Stadtteilen wie in linksalternativ geprägten Vierteln. Eine Frau mit blonder Strubbelfrisur, die in der Hafenstraße in St.Pauli lebt, ist sicher: „Das sind keine Leute von hier, die fackeln doch nicht das eigene Viertel ab.“

    Der Anwalt der Autonomen lässt mit einer verstörenden Aussage aufhorchen

    Zwar berichtet auch die Polizei, dass sich unter den geschätzten 10000 Gewaltbereiten Autonome aus dem ganzen Bundesgebiet und aus anderen Nationen befinden. Doch die routinierte Art, wie sich die Vermummten nach Scharmützeln mit der Polizei immer wieder in kleine Seitenstraßen zurückziehen, zeugt von Ortskenntnis.

    Nun blickt die Stadt entsetzt auf die Trümmer, die die Exzesse hinterlassen haben. Selbst der Anwalt der Roten Flora, Andreas Beuth, spricht von „sinnfreier Gewalt“, lässt allerdings in einem NDR-Interview mit einer verstörenden Aussage aufhorchen: „Wir als Autonome haben gewisse Sympathien für solche Aktionen, aber doch nicht im eigenen Viertel, wo wir wohnen. Also warum nicht in Pöselsdorf oder Blankenese?“ Will heißen: In wohlhabenderen Stadtvierteln geht Gewalt dann schon in Ordnung .

    Auch das gibt es: Zehntausende Menschen demonstrieren friedlich am Rande des G20-Gipfels.
    Auch das gibt es: Zehntausende Menschen demonstrieren friedlich am Rande des G20-Gipfels. Foto: Sina Schuldt, dpa

    Als Bundeskanzlerin Angela Merkel am Samstag eine Bilanz des Gipfels zieht, lobt sie die Arbeit der Polizei ausdrücklich und verurteilt die Ausschreitungen mit ihrer „entfesselten Gewalt und ungehemmten Brutalität“ scharf. Die Bundesregierung, verspricht sie, werde sich mit der Stadt Hamburg sofort darüber verständigen, wie den Opfern der Krawallnächte schnell und unbürokratisch geholfen werden kann. Der Hamburger Verkehrsverbund kündigt eine Art Soforthilfe an. Für geschädigte Autobesitzer soll es kostenlose Monatskarten für den öffentlichen Nahverkehr geben, teilt er gestern mit.

    Im Schanzenviertel räumen tausende Freiwillige da gerade Pflastersteine und Betonplatten zurück auf den Gehweg. Die Polizei spricht von 10000 Teilnehmern, die teilweise mit Eimern und Besen durch die Straßen ziehen. „Wir zeigen Solidarität mit unseren Nachbarn“, sagt Thorben Harms aus dem Stadtteil Barmbek. Aus lebensgefährlichen Wurfgeschossen gegen Polizisten wird wieder Straßenbelag. (mit dpa)

    Lesen Sie hier alle Entwicklungen zum G20-Gipfel im News-Blog.

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