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Freedom-Day: "Größtes Versagen": Großbritanniens bittere Corona-Bilanz

Freedom-Day

"Größtes Versagen": Großbritanniens bittere Corona-Bilanz

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    Auch in Großbritannien haben die strengen Corona-Regeln zu Protesten geführt.
    Auch in Großbritannien haben die strengen Corona-Regeln zu Protesten geführt. Foto: Victoria Jones, dpa

    Der Himmel strahlt in einem kräftigen Blau, als die letzten Läufer des „TCS London-Marathon“ an diesem sonnigen Herbsttag im Ziel einlaufen. Hunderte Menschen drängen sich auf den Straßen nahe des Buckingham-Palastes, um den teils glücklichen, teils ausgezehrten Sportlern zuzujubeln. Kaum einer trägt eine Maske. Zugangsbeschränkungen gibt es nicht. Von der Pandemie spürt man an diesem Tag nur wenig. Genauso scheint Normalität eingekehrt zu sein ins Alltagsleben der Briten. In den Pubs drängeln sich die Menschen am Tresen, die Restaurants sind voll und Besucher schlendern ohne Restriktionen durch die Museen Londons.

    Tatsächlich ist die Zahl der Neuinfektionen im Vereinigten Königreich trotz "Freedom Day“ am 19. Juli, geöffneter Schulen und Großveranstaltungen zuletzt nur leicht gestiegen. Anfang dieser Woche wurden rund 40.000 täglich erfasst. Die Zahl der Menschen, die täglich durch Covid-19 gestorben sind, sank sogar – auf 75 Fälle. Zum Vergleich: Im Januar dieses Jahres verzeichneten die Behörden zeitweise mehr als 1300 Tote pro Tag.

    Keine Garantie, dass die Zahlen niedrig bleiben

    Koen Pouwels, Experte für den Verlauf von Infektionskrankheiten beim "Health Economics Research Center“ (HERC) in Oxford, macht für diese positive Entwicklung die nach wie vor vergleichsweise hohe Impfquote im Land verantwortlich. „Schließlich wurde hier sehr früh und sehr breit geimpft“, sagte er unserer Redaktion.

    Die "Covid Memorial Wall" in London erinnert an Menschen, die in Großbritannien an Covid-19 gestorben sind.
    Die "Covid Memorial Wall" in London erinnert an Menschen, die in Großbritannien an Covid-19 gestorben sind. Foto: Victoria Jones, dpa

    Entwarnung geben möchte der Wissenschaftler jedoch nicht: „Es ist ein gutes Zeichen, dass die Zahl der Menschen, die wegen COVID-19 ins Krankenhaus eingeliefert werden, sinkt“, sagte er. „Aber es gibt absolut keine Garantie dafür, dass dies auch so bleibt.“ Der Grund: Die Immunität der Menschen nehme im Laufe der Zeit ab, sodass das Virus wieder leichter übertragen werden kann – erst recht im Winter, wenn sich die Menschen mehr drinnen treffen und die Belüftung der Räume schlechter ist.

    Die Erinnerungen an den letzten Winter sind bei den Briten noch präsent. Damals wütete das Virus im ganzen Land. Im Londoner Stadtteil Hackney war die Lage besonders dramatisch. Eine Bewohnerin berichtet davon, wie bedrückend es war, als rechts und links von ihrem Haus die betagten Nachbarn starben. Auch ihr Mann war schwer an Covid erkrankt, hatte Atemprobleme. Die Engländerin Fatema pflegte ihn zuhause. „Man sagte mir, ich solle von ihm Abstand halten. Aber ich musste mich doch um ihn kümmern“, sagt die Erzieherin.

    Täglich kamen 4000 Menschen ins Krankenhaus

    In der schlimmsten Phase der Pandemie Anfang des Jahres wurden schließlich täglich rund 4000 Menschen in Krankenhäuser eingeliefert. Nur durch einen monatelangen harten Lockdown ab Januar konnte man die Lage in England schließlich wieder unter Kontrolle bringen. Die sonst lebendige Metropole stand damals plötzlich still, wie bereits im vergangenen Jahr von März bis Anfang Juli. Eine junge Londonerin erinnert sich an diese Zeit: „Wir konnten nichts mehr tun, saßen nur noch zuhause. Es war schrecklich.“

    Ein detaillierter Bericht einer parlamentarischen Untersuchungskommission zählt aktuell auf, wie es zu dieser dramatischen Entwicklung kommen konnte. Auf 151 Seiten werden die Entscheidungen der Regierung in der Corona-Pandemie analysiert und Vorschläge für die Zukunft gemacht. Das Urteil: Zu Beginn der Pandemie wurden „schwere Fehler“ gemacht, die „Menschenleben gekostet haben“.

    Premierminister Boris Johnson ist für sein Krisenmanagement heftig kritisiert worden.
    Premierminister Boris Johnson ist für sein Krisenmanagement heftig kritisiert worden. Foto: Jon Super, dpa

    Für diese schweren Fehler verantwortlich war laut dem Bericht unter anderem die Annahme von Politikern und wissenschaftlichen Beratern, dass man das Virus ohnehin nicht aufhalten könne. Erkenntnisse aus asiatischen Staaten, die zeigten, dass es wichtig ist, schnell zu reagieren, habe man ignoriert. Stattdessen setzte die Regierung unter Premierminister Boris Johnson auf eine „Durchseuchung“ der Bevölkerung.

    Die Regierung wartete, statt zu handeln

    Man wartete ab, statt zu handeln. Maßnahmen wie ein Lockdown und Tests, die, wie der Bericht anmerkt, teilweise sogar in Großbritannien entwickelt wurden, kamen zu spät zum Einsatz. Gleichzeitig lobt der Bericht ausdrücklich die britische Impfkampagne und bezeichnet sie als „eine der effektivsten in Europa“.

    Insgesamt kommt die Kommission jedoch zu einem vernichtenden Schluss: Das Verhalten in den ersten Wochen der Pandemie zähle zu den „größten Versagen im Gesundheitswesen in der Geschichte des Vereinigten Königreichs“. Die Leiter der Kommission, Jeremy Hunt und Greg Clark, kommentierten: „Die Reaktion Großbritanniens auf die Pandemie ist eine Kombination aus großen Errungenschaften und großen Fehlern.“

    Es war diese Kombination, die dazu führte, dass die Briten im Frühjahr dieses Jahres neben einer schnellen Impfkampagne auch einen langen Lockdown durchleben mussten. Der von Boris Johnson zunächst für den 19. Juni terminierte „Freedom Day“ wirkte da für viele wie ein Licht am Ende des Tunnels. An diesem Tag sollten im Vereinigten Königreich alle Covid 19-Schutzmaßnahmen fallen.

    Seit dem 19. Juli sind fast alle Verbote gefallen

    Schließlich wurde der „Tag der Freiheit“ wegen der anhaltend hohen Fallzahlen auf den 19. Juli verschoben. Seitdem muss man in Bars, Clubs und Restaurants im Vereinigten Königreich keine Maske mehr tragen, nötig sind sie im Wesentlichen nur noch im öffentlichen Nahverkehr, in Zügen und im Flugzeug. Auch Festivals und andere Großveranstaltungen können ohne Einschränkungen stattfinden.

    Dabei kam der Wandel laut dem Wissenschaftler Koen Pouwels keineswegs von heute auf morgen: „Es war nicht so, als ob man einen Schalter umgelegt hätte.“ Das Verhalten der Menschen veränderte sich zumindest nach seinem Empfinden erst nach und nach. „Mittlerweile sieht man aber definitiv mehr Menschen ohne Maske als früher.“ Was aber auch daran liegen könne, dass viele geimpft sind, merkt er an.

    Tatsächlich tragen dieser Tage nur noch wenige Menschen in London einen Mund-Nasen-Schutz, sei es im Pub oder beim Einkaufen. Selbst in der U-Bahn, wo es eigentlich Pflicht ist, sieht man viele ohne Maske. Bei einem Fußballspiel im Emirates Stadion im Zentrum der Stadt gibt sich ein Besucher gelassen: „Ich mache mir keine Sorgen, wir sind doch geimpft“. Auch bei einer Taxifahrt nehmen es viele Fahrer nicht so genau mit der geltenden Maskenpflicht.

    Die Freiheit ist den Briten wichtiger

    Auch der Wissenschaftler Koen Pouwels räumt ein, dass ihn die Ankündigung eines „Freedom Day“ in Großbritannien zunächst befremdet hat. Er lebt zwar schon seit fünf Jahren in England, ist aber gebürtiger Niederländer. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es so etwas in meinem Heimatland geben könnte“, sagte er. Aus wissenschaftlicher Perspektive hatte er jedoch keine großen Bedenken: „Der Freedom Day kam schließlich im Sommer und in einer Zeit, als schon viele Menschen geimpft waren.“

    Ist der Umgang mit der Pandemie auch eine Frage der nationalen Mentalität? Fest steht, dass in Großbritannien Konzepte von Freiheit schon seit der „Bill of Rights“ im Jahre 1689 eine wichtige Rolle spielen. Diese Gesetzesvorlage limitierte die Macht des Königs und verbriefte den Bürgern bestimmte Freiheiten. Den Einfluss des Staates sollte sich, so waren sich viele britische Autoren und Philosophen schon im 19. Jahrhundert einig, auf ein Minimum beschränken. Ein Gedanke, der sich bis heute fortsetzt. So wäre es in Großbritannien, anders als in Deutschland zum Beispiel, undenkbar, bestimmte Symbole zu verbieten oder einen Index einzuführen.

    Wie lange die aktuellen Freiheiten während der Pandemie noch gelten werden, ist allerdings nicht klar. Denn der jetzige Kurs birgt laut Experten Risiken. Die Zahl der Menschen, die in Folge einer Covid-Erkrankung ins Krankenhaus eingeliefert werden, nimmt wieder zu. Außerdem beschreiben Eltern und Lehrer in England das von der Regierung lancierte Programm zur Impfung von Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen zwölf und 15 Jahren als „schleppend“ und „willkürlich“. Sie werfen dem erst kürzlich ins Amt berufenen konservativen Bildungsminister Nadhim Zahawi vor, keinen Überblick über die aktuellen Zahlen zu haben.

    99 Prozent der Schulen sind offen

    „Über 200.000 Kinder konnten letzte Woche aufgrund von Covid nicht in die Schule gehen und die Konservativen schlafen am Lenkrad. Nadhim Zahawi kann nicht mal sagen, wie viele Kinder geimpft wurden“, sagte Kate Green, Parlamentsmitglied und Bildungsbeauftragte der oppositionellen Labour-Partei. Laut Medienberichten sind zirka zehn Prozent der jungen Menschen dieser Altersgruppe geimpft.

    Der Wissenschaftler Koen Pouwels steht Impfungen von so jungen Menschen im Königreich aus wissenschaftlicher Perspektive ambivalent gegenüber. Eigentlich haben sie keinen medizinischen Nutzen, da diese ohnehin kaum schwer erkranken, erklärte er. „Gleichzeitig können sie jedoch dazu beitragen, dass mehr Kinder in der Schule unterrichtet werden können.“

    Derzeit sind fast alle Schulen offen. Doch ob alle Kinder geimpft werden sollen, ist umstritten.
    Derzeit sind fast alle Schulen offen. Doch ob alle Kinder geimpft werden sollen, ist umstritten. Foto: Owen Humphreys, dpa

    In Großbritannien findet in den meisten Schulen seit September dieses Jahres wieder regulärer Präsenzunterricht statt – fast wie in Zeiten vor der Pandemie. „Aktuell sind 99 Prozent der Schulen offen“, sagte Zahawi letzte Woche. Er kündigte angesichts der unvorhersehbaren Lage jedoch auch an, dass es im Winter wieder zu Beschränkungen kommen könnte, beispielweise in Form einer Maskenpflicht. Getrennte Gruppen wolle er so lange wie möglich vermeiden.

    Die Mediziner warnen vor einer Grippewelle

    Zu den Sorgen um die Kinder kommt auf der Insel nun die Angst vor der nächsten Grippewelle - und einem überlasteten Gesundheitsdienst NHS. Denn der keucht schon in Normalzeiten. Experten warnen, dass im Verlauf des Winters bis zu 60.000 Menschen an der Folge dieser Virusinfektion sterben könnten. Auch Pouwels fürchtet, dass mehr Menschen in Großbritannien erkranken werden. „Die Tatsache, dass man eine ganze Weile keinen Grippeviren mehr ausgesetzt war, kann dazu führen, dass es in der Bevölkerung weniger Kreuzschutz gegen neue Varianten gibt“, sagte er.

    Premierminister Boris Johnson gab sich bislang gewohnt optimistisch und rief angesichts des Winters mit einer anhaltenden Pandemie und einer zu befürchtenden Grippewelle dazu auf, dass sich noch mehr Menschen impfen lassen sollen. Gleichzeitig sollen sie jedoch auch, so betonte er, so schnell wie möglich wieder in ihren Büros arbeiten. Denn „eine produktive Gesellschaft braucht dieses gewisse Etwas, das nur entsteht, wenn man sich von Angesicht zu Angesicht trifft – und durch Plaudereien am Wasserspender.“

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