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Frankreich: Der Mann, der den Anschlag auf Charlie Hebdo überlebte

Frankreich

Der Mann, der den Anschlag auf Charlie Hebdo überlebte

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    Philippe Lancon hat den Anschlag auf Charlie Hebdo überlebt. Sein Unterkiefer musste mühsam rekonstruiert werden.
    Philippe Lancon hat den Anschlag auf Charlie Hebdo überlebt. Sein Unterkiefer musste mühsam rekonstruiert werden. Foto: Christophe Archambault, afp

    Auf dem Flur sind Schreie zu hören, dumpfes Krachen. Es ist der Moment, in dem Philippe Lançon begreift: Sein Leben könne jetzt zu Ende sein. Und in dem ihm an jenem 7. Januar 2015 die Frage durch den Kopf rast: „Wie lange braucht man, um zu spüren, dass der Tod kommt, wenn man nicht mit ihm rechnet?“

    Lançon hört die klickenden Geräusche der Schusswaffen, „keine lauten Explosionen wie im Kino, nein, dumpfe, trockene Böller“, die er nicht einzuordnen weiß. Ein letztes Mal blickt er Charb, den Chefredakteur des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo an, ehe dieser erschossen wird. Jahre später schreibt Lançon: „Die wenigen Sekunden Leben, die ihm noch verblieben, reichten ihm, um zu begreifen, aus welchem elenden Comic diese beiden hohlen, vermummten Köpfe, die Fanatismus und Tod säten, kamen.“

    Er überlebt schwer verletzt, weil die Mörder ihn für tot halten – wie er da liegt, in seiner Blutlache. Nach zwei Minuten der Schießerei, die ihm endlos lang vorkommen, fliehen die Männer. Zwei Tage später werden die Brüder Chérif und Saïd Kouachi von der Polizei entdeckt und getötet.

    Für Philippe Lançon ist es die "Revanche des Lebens"

    Minutiös beschreibt der Kunst- und Literaturkritiker in seinem Buch „Der Fetzen“ das Blutbad während einer Redaktionskonferenz von Charlie Hebdo, wo an jenem 7. Januar 2015 Frankreichs berühmteste Karikaturisten niedergemetzelt wurden. Vor allem aber schildert er, was danach passiert ist.

    Bei dem Anschlag auf das religionskritische französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“ wurden zwölf Menschen getötet.
    Bei dem Anschlag auf das religionskritische französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“ wurden zwölf Menschen getötet. Foto: Fredrik von Erichsen, dpa

    Zu einem Gespräch darüber ist der 56-Jährige gerne bereit, aber eines stellt er gleich vorneweg klar: Er hat einen kleinen Sohn und sein Tagesablauf richtet sich nach dessen Krippenzeiten. Das ist nicht nur wichtig, um einen geeigneten Termin und Ort zu finden – ein Pariser Café in der Nähe seiner Wohnung. Sondern so gibt er auch bereits Auskunft über die jüngste erstaunliche Wendung in seinem Leben: Dass er mit Mitte 50 zum ersten Mal und nach so vielen seelischen und körperlichen Prüfungen Vater geworden ist, gehört für Lançon zur „Revanche des Lebens“. Zu den Überraschungen, die es noch bereit hielt – ausgerechnet für ihn, der nach dem Anschlag mit allen Freuden, ja mit dem Leben an sich abgeschlossen hatte.

    Die Terroristen schossen ihm den Kiefer weg, verwundeten ihn am Arm und an der Hand. Der Anblick des zerfetzten unteren Drittels seines Gesichts veranlasste einen der herbeigerufenen Feuerwehrmänner zu dem entsetzten Ausruf: „Das ist eine Kriegsverletzung!“

    Es war ein einseitiger, fanatischer Krieg, den die Brüder Kouachi Frankreich erklärt hatten und der Auftakt einer blutigen Terror-Serie, die in der Folge nicht nur Paris, sondern viele andere Städte treffen sollte. Die Islamisten griffen die Satirezeitschrift als Symbol der Presse- und Meinungsfreiheit an und „rächten“ den Propheten, den das Blatt häufig verspottet hatte, das sich seit jeher über alle Religionen und deren Vertreter lustig machte.

    Zwölf Menschen ermordeten die beiden Täter, elf verletzten sie teils schwer, darunter Philippe Lançon. Während die Worte „Je suis Charlie“ („Ich bin Charlie“) um die Welt gingen und sich 1,5 Millionen Menschen in Paris zu einem Solidaritätsmarsch zusammenfanden, erlebte er das Drama als ganz persönliches. Und genau so schildert er es auch.

    Aus einem Teil seines rechten Wadenbeins ist Lançons neuer Kiefer entstanden

    Sein Buch, das in Frankreich bereits im letzten Frühjahr erschienen ist, wurde mit Literaturpreisen ausgezeichnet, mehrmals neu aufgelegt und ist nun auch auf Deutsch erschienen. Der rabiat klingende Titel „Der Fetzen“ stammt von Lançons Chirurgin Chloé, die im Buch eine zentrale Rolle einnimmt, weil er all seine Hoffnung in ihr Können setzt. In langwieriger Arbeit hat sie an die Stelle seines größtenteils weggerissenen Unterkiefers einen Teil seines rechten Wadenbeins transplantiert, um ihm wieder ein vollständiges Gesicht zu geben. 17 Operationen waren dafür nötig.

    Wer frühere Fotos von Philippe Lançon mit seinem heutigen Aussehen vergleicht, sieht die Veränderung sofort; andernfalls deutet nur eine Markierung auf der Unterlippe die Verwandlung an. Über den Unterkiefer ist ein grau-schwarzer Bart gewachsen. „Salz und Pfeffer“ nennen die Franzosen diese Farbmischung im Haar von Männern mittleren Alters. Wenn Lançon lächelt, dann tut er es vor allem mit den Augen, während die Mundpartie weitgehend bewegungslos bleibt.

    ---Trennung Lançon ist keiner, der sich kurz fasst Trennung---

    Doch der Eindruck eines ruhigen, fragilen Mannes, den sein ernster Blick, die ruhige Stimme und die zierliche Gestalt vermitteln, täuscht. Der 56-Jährige, der sich im Café eine ruhige Ecke am Fenster ausgesucht und eine Cola light bestellt hat, redet gern und viel – einen „Geschwätzigen“ nennt er sich selbst. In seinen Artikeln für Charlie Hebdo und die linke Tageszeitung Libération konnte er sich nie kurz fassen. Auch das Buch mit seinen 551 Seiten ist ausführlich und sehr intim, nachdenklich, manchmal ironisch und wohl gerade durch die radikale Ehrlichkeit, die keine negativen oder positiven Emotionen auslässt, so bewegend.

    Die Arbeit daran hatte für ihn eine „therapeutische Wirkung“, sagt Lançon. Fähig dazu war er erst, als die schlimmste Phase überwunden war, in der er dachte, niemals wieder in ein selbstständiges Leben zu finden. „Man braucht ein Minimum an Distanz zu sich selbst, um schreiben zu können, ohne dass es sentimental wird“, sagt er. „Nach und nach löste ich mich von der Person, um die es ging. Der Philippe Lançon des Buches ist für mich zu einer Figur geworden. Zugleich ist alles real passiert.“

    In der ersten Zeit nach dem Anschlag war Lançon zum Schweigen verdammt. Das Buch basiert zum einen auf Mails, die er in dieser Zeit schrieb, aber auch auf Tagebuchaufzeichnungen seines Bruders Arnaud, der sich voller Hingabe um ihn kümmerte – und auf Erinnerungen, die sich ihm eingebrannt haben. Ereignisse aus seinem früheren Leben als Reporter sind ebenso in den packend präzisen Erfahrungs- und Gefühlsbericht eingeflossen wie literarische Anspielungen an Werke, die ihn geprägt haben.

    Lançon beschreibt, wie nach dem Anschlag alle, die sich ihm näherten, von einem anderen Stern zu kommen schienen – dem Stern, auf dem das Leben weitergeht, während er sich den Toten, seinen einstigen Freunden und Kollegen, näher fühlt: „Das Gefühl, dass sie mir entglitten, machte mich noch viel trauriger und einsamer als alles, was ich sonst zu bewältigen hatte.“ Trotz des ständigen Polizeischutzes sogar im OP-Raum plagte ihn die Angst vor der Rückkehr der Mörder, ohne sich näher für sie zu interessieren. Diese dumpf Hassenden erschienen ihm nicht würdig dafür.

    Um ihn spinnt sich ein enger Kokon aus Nahestehenden, darunter seine Ex-Frau Marylin, mit der ihn noch viel verbindet, und seine erschütterten Eltern. „Mit 51 Jahren wurde ich wieder zu ihrem Säugling“, sagt Lançon heute. Die wichtigste Person in dieser Zeit zwischen Verbandswechseln und Operationen wurde allerdings seine Chirurgin Chloé. In seinem Buch charakterisiert er sie so: „Chloé war nah und fern, gerecht und ungerecht, wohlwollend und streng, allmächtig und alldistanziert. Sie war die unvollkommene Fee, die mir, über meine Wiege gebeugt, ein zweites Leben geschenkt hatte.“

    Ein Schriftzug, der um die Welt ging: „Je suis Charlie“ - „Ich bin Charlie“
    Ein Schriftzug, der um die Welt ging: „Je suis Charlie“ - „Ich bin Charlie“ Foto: Fred Scheiber, dpa

    Seine Freundin eilt an sein Krankenbett - doch Lançon kreist nur um sich selbst

    Und dann ist da die starke Liebesgeschichte mit der Tänzerin Gabriela, die in New York lebt, dort selbst mit großen Problemen ringt und die „mich über alles Vorgefallene und Bevorstehende, über irgendetwas, ja womöglich einfach über mich selbst hinwegtrösten sollte“, wie er schreibt. Sie eilt an sein Krankenbett, um an seiner Seite zu sein – und doch entfremdet er sich von ihr, weil er nicht mehr derselbe ist und nur um sich selbst kreist. Gabriela ist nicht die Mutter seines kürzlich geborenen Kindes: Mehr möchte Lançon, der so viel Privates in seinem Buch preisgegeben hat, nicht über sein heutiges Leben sagen.

    Gut vier Jahre nach den Vorfällen verfasst er zwar Kolumnen, Kunst- und Literaturkritiken für seine beiden Zeitungen, ist aber immer noch krankgeschrieben. Vor einem Monat musste er sich einer neuerlichen Operation unterziehen. Er hat weiterhin Schmerzen, das Essen bereitet ihm Probleme, er deutet auf seinen Kiefer: „Der lässt sich nie vergessen.“ Polizeischutz hat er längst nicht mehr, fühlt sich auch nicht bedroht von potenziellen Terroristen. „Diese Leute lesen nicht“, sagt er. „Sie informieren sich über die sozialen Netzwerke. Auch die Kouachi-Brüder haben Charlie Hebdo wohl niemals aufgeschlagen.“

    Fast täglich erhält er Post von Lesern, die oftmals Krankheiten und Operationen durchstehen mussten und sich verstanden fühlen. „Es freut mich, dass mein Buch so viele Menschen berührt und anspricht. Das ist das Beste, was einem Schriftsteller passieren kann“, sagt Lançon, der mit zwei vorherigen Romanen weniger Erfolg hatte. In gewisser Hinsicht ist es für ihn eine weitere „Revanche des Lebens“.

    Philippe Lançon: Der Fetzen. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Verlag Klett-Cotta, 551 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag. 25 Euro.

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