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Flüchtlingskrise: Stephan Detjen: "Merkel hat die Wucht unterschätzt"

Flüchtlingskrise

Stephan Detjen: "Merkel hat die Wucht unterschätzt"

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    Im Sommer 2015 kamen über viele Tage tausende von Flüchtlingen am Hauptbahnhof München an.
    Im Sommer 2015 kamen über viele Tage tausende von Flüchtlingen am Hauptbahnhof München an. Foto: Sven Hoppe, dpa

    Herr Detjen, Sie und Ihr Co-Autor Maximilian Steinbeis schreiben in ihrem Buch „Die Zauberlehrlinge“ im Zusammenhang mit dem massenhaften Flüchtlingszuzug vor ziemlich genau vier Jahren von einem Mythos des Rechtsbruchs. Was ist damit überhaupt gemeint?

    Stephan Detjen: Der Vorwurf des Rechtsbruchs durch Kanzlerin Angela Merkel geht von der Annahme aus, die Bundesregierung sei im Sommer 2015 von Rechts wegen verpflichtet gewesen, die deutschen Grenzen rigide zu schließen und Asylsuchende notfalls mit Gewalt nach Österreich zurückzuweisen. Man kann zu dieser Annahme kommen, wenn man den Blick auf das nationale Recht verengt, zum Beispiel auf den geänderten Asylparagrafen 16a des Grundgesetzes. Wer so argumentiert, blendet aber das Europarecht aus. Auch das Grundgesetz gilt nur im Lichte das Europarechts und der Dublin-Regeln. Sie sollen gerade verhindern, dass Flüchtlinge einfach von einem Land ins andere gestoßen werden. Wir sehen ja gerade im Mittelmeer, wie aktuell das Thema ist.

    Journalist und Jurist Stephan Detjen.
    Journalist und Jurist Stephan Detjen. Foto: Anja Schaefer, Klett-Cotta

    Die These vom Rechtsbruch hält sich hartnäckig. Der ehemalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen brachte sie erst vor wenigen Tagen wieder auf. Maaßen fordert gar einen Untersuchungsausschuss. Warum können Juristen und Politiker nicht von diesem Vorwurf lassen?

    Detjen: Der Vorwurf des Rechtsbruchs hat sich verfestigt. Er ist zu einer mythischen Erzählung geworden. Oder, wie wir es in unserem Buch sagen, zu einer Legende, die gar keiner weiteren Begründung mehr bedarf, um in weiten Teilen der Öffentlichkeit glaubwürdig zu erscheinen. Selbst bei vielen Befürwortern der Flüchtlingspolitik des Jahres 2015 hat sich ein Gefühl festgesetzt, dass das rechtlich nicht ganz in Ordnung gewesen sei. Das fanden wir bemerkenswert. Denn die Bundesregierung konnte gerade rechtlich gute Gründe für sich in Anspruch nehmen. Auch der Europäische Gerichtshof hat das inzwischen bestätigt.

    Die These vom Rechtsbruch habe der Rechtskultur geschadet, sagt Detjen

    Sie kommen im Buch zu dem Schluss, die Rechtsbruch-These habe der Rechtskultur großen Schaden zugefügt und der AfD, so wie wir sie heute kennen, Aufwind verliehen.

    Detjen: Der Vorwurf des Rechtsbruchs ist ein Türöffner gewesen, ein Dietrich, mit dem sich die AfD den Zugang zu bürgerlichen Wählermilieus aufgeschlossen hat. Menschen, die 2015 davor zurückgeschreckten, gegen Flüchtlinge oder mit Pegida auf die Straße zu ziehen, waren für den Vorwurf erreichbar, dass die Bundesregierung rechtswidrig gehandelt habe und dass das skandalisiert werden müsse. Das hat es der AfD ermöglicht, eine ihrer Gründungserzählungen wiederzubeleben: Sie ist eine Partei, die sich in ihrem Selbstverständnis seit der Eurokrise als Hüterin des Rechts sieht. Im Sommer 2015 lag die AfD am Boden. Die Erzählung vom Rechtsbruch durch Angela Merkel hat sie wiederbelebt.

    Wenn die Flüchtlingsdebatte abebbt, müsste also auch die AfD wieder an Bedeutung verlieren?

    Detjen: Die Zustimmung zur AfD speist sich ja aus unterschiedlichen Quellen, sie spricht unterschiedliche Milieus an. Aber der bürgerliche Kern wird nach wie vor sehr stark durch diese Erzählung gebunden. Insofern hat ja auch die CSU in der ersten Jahreshälfte 2018 in ihrem Bemühen, durch eine Anlehnung an die Sprache der AfD Wähler am rechten Rand zurückzugewinnen, das Thema Recht aufgenommen. Bundesinnenminister Horst Seehofer sprach von „Spiralen von Gerichtsentscheidungen“ die durchbrochen werden müssten. Die Eskalation der Rhetorik mündete im Sommer 2018 in die spektakuläre Koalitionskrise, die fast zum Bruch der Regierung geführt hätte. Damals wurde das Thema, das im Mittelpunkt der Rechtsbruch-Legende steht, wieder auf die Tagesordnung gesetzt, nämlich die Forderung, Schutzsuchende an der deutschen Grenze zurückzuweisen. Auch Seehofer aber hat sich am Ende der Einsicht gefügt, dass das aus europarechtlichen Gründen nicht so einfach geht.

    Dass Seehofer vom "Herrschaft des Unrechts" spricht, sei eine "Ungeheuerlichkeit"

    Seehofer hat im Zusammenhang mit den Flüchtlingen und den Entscheidungen im Kanzleramt auch von der „Herrschaft des Unrechts“ gesprochen. Ein unfassbar harter Vorwurf, noch dazu einer, der sich Ihrem Buch zufolge kaum halten lässt. Würde es der Debattenkultur helfen, wenn Seehofer sich entschuldigt?

    Detjen: Es war in der Tat eine Ungeheuerlichkeit, dass der Vorsitzende einer Regierungspartei die Politik der Regierung als eine „Herrschaft des Unrechts“ beschreibt und damit einen Begriff aufnimmt, der bis dahin nur für das NS-Regime und die SED-Diktatur verwendet wurde. Das ist einer der Skandale dieser Diskursgeschichte gewesen. Aber das ist nicht nur Seehofers Schuld gewesen.

    Sondern?

    Detjen: Wir halten auch Kanzlerin Merkel und dem damaligen Innenminister Thomas de Maizière vor, dass sie dem nicht entschieden entgegengetreten sind. Beide hätten selbstverständlich darauf beharren müssen, dass sie sich im Sommer 2015 im Rahmen des europäischen Rechts bewegt haben.

    Das ist Stephan Detjen

    Stephan Detjen, 54, ist Chefkorrespondent des „Deutschlandradios“ und leitet das Hauptstadtstudio des Senders in Berlin. Seine Laufbahn startete er beim „Bayerischen Rundfunk“ in München. Detjen studierte Jura sowie Geschichte und war unter anderem als rechtspolitischer Korrespondent in Karlsruhe tätig.

    Die Regierungschefin hat bislang erkennbar nichts getan, um den Vorwurf des Rechtsbruchs zu entkräften. Was könnten die Gründe dafür sein?

    Detjen: Man kann dafür zwei Motive ausmachen. Das eine war, dass man dieses Rechtsthema nicht weiter zum politischen Schlachtfeld machen wollte. Die Erwartung der Bundesregierung war, dass man das Thema kleinhalten kann, wenn man nicht weiter drüber redet. Da spielt auch die Angst eine Rolle, dass die CSU wirklich wie angedroht nach Karlsruhe ziehen und die Regierung verklagen würde. Merkel und de Maizière waren zwar sicher, dass sie einen Verfassungsstreit bestehen würden, aber sie hatten Angst vor den politischen Konsequenzen. Ein solcher Schritt hätte vermutlich das Ende der Koalition und der Fraktionsgemeinschaft bedeutet.

    Und der zweite Grund?

    Detjen: Die Regierung Merkel hat die Wucht unterschätzt, den der Vorwurf des Rechtsbruchs in der Öffentlichkeit entfalten würde. Das Gefühl, das man selber Zeuge eines schreienden Unrechts wird, mobilisiert die Menschen aber enorm.

    Das Buch „Die Zauberlehrlinge“ von Detjen und Co-Autor Maximilian Steinbeis ist im Verlag Klett-Cotta erschienen. Das Buch hat 263 Seiten und kostet 18 Euro.

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