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Flüchtlingskrise: Entwicklungsminister Müller: „Lage ist beschämend und unmenschlich“

Flüchtlingskrise

Entwicklungsminister Müller: „Lage ist beschämend und unmenschlich“

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    Syrische Flüchtlinge in einem Auffanglager in Jordanien. Der Bundesentwicklungsminister fordert mehr Hilfe für Syriens Nachbarländer.
    Syrische Flüchtlinge in einem Auffanglager in Jordanien. Der Bundesentwicklungsminister fordert mehr Hilfe für Syriens Nachbarländer. Foto: Jamal Nasrallah (dpa)

    Herr Müller, eigentlich wollten Sie gerade im Nordirak sein. Flüchtlingscamps besuchen, eine Klinik, eine Schule – um zu sehen, wie hunderttausende Syrer, die vor dem Krieg in ihrer Heimat ins Nachbarland geflohen sind, dort den Winter überleben können. Und was man tun kann, damit sie sich nicht auf den Weg nach Europa machen. Warum sind Sie nicht geflogen?

    Müller: Da Russland seine Bombenangriffe auf Syrien intensiviert hat und die Marschflugkörper ins IS-Gebiet den Nordirak überqueren, wurde der Flughafen in Erbil gesperrt. Ich wäre wohl noch ins Land hinein-, sicher aber nicht mehr herausgekommen.

    Wie ist die Situation der Menschen in den Flüchtlingslagern im kurdischen Norden des Irak – gute fünf Jahre nach Beginn des Bürgerkriegs in Syrien?

    Müller: Die Lage ist dramatisch. Es ist beschämend und unmenschlich, dass die Weltgemeinschaft noch immer nicht konsequent und entschlossen auf die Situation in den Flüchtlingslagern der Krisenregion reagiert – und Möglichkeiten schafft, dass die Menschen vor Ort anständig überleben können.

    Wie stehen Sie als CSU-Minister zu der Forderung Ihrer Partei nach einer Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland?

    Müller: Ich habe in der Sache für Horst Seehofer volles Verständnis, denn die Lage an der bayerischen Grenze ist sicherlich die schwierigste in Deutschland. Täglich kommen 6000 bis 10000 Menschen hier an. Unsere Strukturen sind vollkommen überlastet. Die Ehrenamtlichen, die seit Monaten ununterbrochen helfen und Herausragendes leisten, haben vielerorts ihre Grenzen erreicht, da höre ich viele Hilferufe.

    "Die Glaubwürdigkeit der EU steht auf dem Spiel"

    Halten Sie also auch eine Obergrenze für die richtige Lösung?

    Müller: Ich bin gleichzeitig für eine europäische Lösung. Da unterstütze ich voll und ganz Kanzlerin Merkel, die mit allem diplomatischen Geschick versucht, eine Lösung zu finden. Und die permanent und nachdrücklich die Europäische Union bedrängt, eine Quote umzusetzen und Hotspots aufzubauen. Doch es geht kaum etwas voran. Die Glaubwürdigkeit der EU steht auf dem Spiel. Wer soll denn da noch an die europäische Politik glauben? Und wenn es um Finanzinteressen geht, stehen zur Bankenrettung auch Milliarden zur Verfügung.

    Gerade hat das Uno-Kinderhilfswerk Unicef einen verzweifelten Hilferuf gestartet, dass bis Ende des Jahres 250 Millionen Dollar für die Versorgung syrischer Bürgerkriegskinder fehlen...

    Müller: Dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen fehlen drei Milliarden Euro, die von den internationalen Geberländern im Laufe des Jahres zwar fest zugesagt wurden, aber nicht tatsächlich zur Verfügung gestellt worden sind. Die Uno-Organisationen können inzwischen hunderttausende Menschen überhaupt nicht mehr mit Nahrungsmitteln versorgen. Anderen werden die Rationen gekürzt. Das ist beschämend und unmenschlich.

    Wie schlimm ist die Lage in den Flüchtlingslagern, wenn die Leute dort hungern müssen?

    Müller: Es gibt keine Winterzelte, stattdessen leben die Menschen in Nässe und im Dreck. Es droht der Ausbruch der Cholera. Es gibt zu wenige Schulen in den Camps, keine Ausbildungsmöglichkeiten – es gibt keine Lebensperspektiven. Die internationalen Hilfsorganisationen müssen jedes Jahr wieder bitten und betteln, damit sie von den Ländern Geld für die Flüchtlingshilfe bekommen. Das müssen wir ändern.

    "Die Welt ist ein globales Dorf"

    Welche Lösungsmöglichkeiten sehen Sie, um die Hilfe zu verbessern?

    Müller: Wir brauchen neue Instrumente, neue Strukturen. Unter anderem brauchen wir einen Uno-Flüchtlingsfonds, in den die gesamte Staatengemeinschaft einzahlt. Alle müssen sich daran beteiligen: die Amerikaner ebenso wie die Chinesen, die Afrikaner ebenso wie die Australier – je nach Größe, wirtschaftlicher Stärke und der Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen. Denn die Welt ist ein globales Dorf, da tragen alle Verantwortung.

    Gibt nicht auch die in der Flüchtlingskrise zerstrittene EU ein desaströses Bild ab?

    Müller: Brüssel hat bisher komplett versagt, Europa ist in der Flüchtlingskrise nicht handlungsfähig. Ich fordere ein Zehn-Milliarden-Euro-Sofortprogramm, damit können wir die Nachbarländer Syriens stabilisieren: den Nordirak, Jordanien, Libanon und die Grenzgebiete zur Türkei, in die sich ein Großteil der Syrier geflüchtet haben. Wenn wir das nicht schaffen, werden wir in Deutschland und in Europa einen hohen Preis dafür zahlen. Das muss jedem klar sein. Denn inzwischen sind die Flüchtlinge hier bei uns in jeder Stadt, in jeder Gemeinde, in jedem Dorf angekommen.

    Glauben Sie wirklich, dass mehr Hilfe für die Flüchtlinge in den Nachbarländern Syriens den Zustrom nach Deutschland bremsen würde?

    Müller: Der Großteil der Flüchtlinge, die sich auf den Weg zu uns machen, kommen nicht unmittelbar aus dem Kriegsgebiet. Sie kommen aus den Flüchtlingscamps im Nordirak oder aus Ziegenställen in Jordanien, in denen sie Unterschlupf gefunden haben. Zwei, drei oder vier Jahre haben sie dort jetzt gelebt, ohne Wasser, ohne Toilette. Es ist verständlich, dass sie diese Hoffnungslosigkeit verlassen wollen. Es ist aber unverständlich, dass wir nicht bereit sind, ausreichend darauf zu reagieren.

    Was würde es Europa und Deutschland kosten, die Lage vor Ort zu verbessern, damit weniger Flüchtlinge sich auf den Weg machen?

    Müller: Allein in Deutschland werden die ankommenden Flüchtlinge im Jahr 15 Milliarden Euro kosten. Vor Ort aber können wir mit zehn Milliarden Euro die ganze Lage stabilisieren. Und zehn Milliarden Euro kann Europa, deren Länder ein Vielfaches in die Militärausgaben stecken, nun wirklich aufbringen. Das ist eine Investition in die Zukunft. Damit können wir verhindern, dass sich die Flüchtlinge auf den Weg zu uns machen. Doch das muss jetzt schnell gehen – sonst laufen alle davon in Richtung Europa. Oder es verlieren viele tausende Menschen ihr Leben.

    "Mit El Niño kümmert sich die nächste Katastrophe an"

    Wenn es Europa bisher nicht geschafft hat, die Flüchtlingskrise in den Griff zu kriegen – wie soll das jetzt gehen?

    Müller: Wir brauchen einen europäischen Krisenkoordinator, einen eigenen Flüchtlings-Kommissar. Außerdem brauchen wir ein europäisches Flüchtlingshilfswerk mit eigenem Etat und zivilen Einsatzkräften, um im Krisenfall handlungsfähig zu sein.

    Im Augenblick kommen die meisten der 60 Millionen Flüchtlinge weltweit aus Entwicklungsländern...

    Müller: Und es werden immer mehr. Das ist absehbar, mit dem El Niño und den damit zusammenhängenden Wetterextremen kündigt sich die nächste Katastrophe an: nämlich hunderttausende Klimaflüchtlinge. Auch das kann nicht die Aufgabe von vier oder fünf betroffenen Ländern sein. Die Klimakatastrophe wurde global ausgelöst, sie muss auch global gelöst werden.

    Die nächste Flüchtlingswelle ist also auch schon absehbar?

    Müller: Ja, das Flüchtlingsthema kam nicht überraschend, es hat sich lange aufgebaut. Nur: Wir waren nicht darauf vorbereitet und ziehen auch jetzt noch nicht die richtigen Konsequenzen. Das Thema wird uns das ganze Jahrzehnt beschäftigen, darauf müssen wir uns einstellen, nicht nur im Umfeld des Syrien-Krieges. In Afghanistan wissen wir nicht, ob die Gewalt und der Terror zu stoppen sind. In Pakistan machen sich die Menschen auf den Weg, in den afrikanischen Ländern auch. Und das sind nur ein paar Beispiele.

    Sind die derzeitigen Flüchtlingsmassen vielleicht auch die Quittung dafür, dass Europa jahrelang weggeschaut hat, als Italien oder Griechenland verzweifelt um Hilfe gerufen haben, weil an deren Küsten immer mehr Flüchtlinge strandeten?

    Müller: Ja, ganz sicher. Jeder war empört, was da vor zwei Jahren in Lampedusa passiert ist. Sogar der Papst ist hingereist und hat die Welt gewarnt. Da hat sich ein dramatisches Problem aufgebaut, mit dem man Italien und Griechenland zu lange alleingelassen hat.

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