Angela Merkel redet nicht lange um den heißen Brei herum. Sie weiß, dass sie wie die Parteien, die die alte Regierung gebildet haben und nun auch die neue Regierung tragen, den Bürgern viel zugemutet haben. Nie war es schwieriger, eine Koalition zu schmieden, nie mussten die Bürger so lange auf den Antritt einer neuen Regierung warten.
Das zeige, sagt Merkel am Mittwochmittag bei ihrer traditionellen Regierungserklärung zum Auftakt der Legislaturperiode, „dass sich in unserem Land offenkundig etwas verändert hat“. Obwohl vieles gut sei und es Deutschland wirtschaftlich so gut gehe wie noch nie seit der Wiedervereinigung, haben die Flüchtlingskrise und die Debatte über die Folgen das Land „bis heute gespalten und polarisiert“. Der Ton der Auseinandersetzung sei rauer, gleichzeitig die Sorge um den Zusammenhalt der Gesellschaft größer geworden.
Vor den Abgeordneten des Bundestags gibt sich Merkel zum Auftakt ihrer vierten Amtszeit demütig und selbstkritisch, räumt Fehler im Vorfeld der Flüchtlingskrise ein und erneuert ihr Versprechen, dass sich Zustände wie im Herbst 2015 auf keinen Fall wiederholen dürfen. „Wir – und auch ich – haben viel zu lange halbherzig reagiert“, gibt sie zu. Viel zu lange habe man weggesehen und als Land in der Mitte Europas darauf gesetzt, nicht unmittelbar betroffen zu sein. „Das war falsch oder naiv!“ Und doch verteidigt die Kanzlerin einmal mehr ihre Entscheidung. „Ja, und als sie kamen, haben wir die Menschen aufgenommen und sie nicht abgewiesen.“ Da gibt es sogar Beifall aus den eigenen Reihen, erst recht, als sie darauf verweist, dass Deutschland „im Großen und Ganzen“ die Herausforderungen bewältigt habe. „Unser Land kann stolz darauf sein.“
Zusammenhalt muss „größer und nicht kleiner“ werden
Ohne ihren neuen Innenminister, CSU-Chef Horst Seehofer, beim Namen zu nennen, weist sie dessen Aussage zurück, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Es stehe außer Frage, dass das Land christlich und jüdisch geprägt sei. „Doch so richtig das ist, so richtig ist es auch, dass mit den 4,5 Millionen bei uns lebenden Muslimen ihre Religion, der Islam, inzwischen ein Teil Deutschlands geworden ist.“ Die Bundesregierung habe die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass der Zusammenhalt aller dauerhaft in Deutschland lebenden Menschen „größer und nicht kleiner wird“.
Zusammenhalt – wie ein Leitmotiv zieht sich dieses Wort durch ihre gesamte 60-minütige Rede, die nur an wenigen Stellen von Beifall unterbrochen wird. „Wir wollen Spaltungen überwinden und einen neuen Zusammenhalt schaffen“, verspricht sie – und begründet damit die sozialpolitischen Vorhaben der Großen Koalition für Familien und Rentner, die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen, im Gesundheitswesen und bei der Pflege. „Kinderarmut in einem reichen Land wie Deutschland ist eine Schande“, sagt sie, Herkunft dürfe den Erfolg oder Misserfolg in der Schule nicht bestimmen, zudem sei es das Ziel ihrer Regierung, gleichwertige Lebensverhältnisse im ganzen Land zu schaffen.
Im außenpolitischen Teil ihrer Rede erteilt sie einem wirtschaftspolitischen Isolationismus und Strafzöllen eine Absage. „Digitalisierung und Abschottung sind zwei Pole, die sich schlecht vertragen.“ Auch in ihrer vierten Amtszeit werde sie „jeden Tag von morgens bis abends“ ihre Kraft und Energie dafür einsetzen, „das Beste für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, für alle Menschen in unserem Land zu erreichen“, verspricht sie. Sie zitiert aus ihrer ersten Regierungserklärung vor zwölf Jahren: „Ich bin überzeugt, Deutschland kann es schaffen.“ Und fügt hinzu: „Deutschland, das sind wir alle.“
Alexander Gauland (AfD) lässt kein gutes Haar an Merkel
Sparsam fällt der Applaus aus, nur einige Unionsabgeordnete in den hinteren Reihen erheben sich von ihren Plätzen. Massive Kritik kommt von den vier Oppositionsparteien. Alexander Gauland von der AfD, der als Chef der größten Oppositionsfraktion das Recht der ersten Gegenrede hat, lässt kein gutes Haar an Merkel: „Ein bisschen mehr Pathos, ein bisschen mehr Tiefgang oder was Helmut Schmidt Visionen genannt hat hätte ich mir schon gewünscht.“ Die Masseneinwanderung gehe „ungebremst weiter“, und während Flüchtlinge großzügige staatliche Unterstützung erhielten, nehme die Zahl der Obdachlosen zu. „Es gibt keine Pflicht zu Buntheit und Vielfalt, es gibt auch keine Pflicht, meinen Staatsraum mit Fremden zu teilen.“
FDP-Fraktionschef Christian Lindner knöpft sich erst einmal Horst Seehofer vor, der mit seinen Äußerungen zum Islam die öffentliche Debatte bestimmte. Die CSU müsse sich „ihren eigenen Dämonen“ stellen und dürfe nicht länger die Religionen gegeneinander ausspielen, mahnt er. Und an die Adresse Merkels sagt er, der Charakter ihrer Kanzlerschaft sei noch offen. Es sei nicht entschieden, ob sie den durch ihre Flüchtlingspolitik entstandenen Vertrauensverlust wieder herstellen könne.
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