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Flüchtlingselend: Über 40 Millionen Menschen sind auf der Flucht im eigenen Land

Flüchtlingselend

Über 40 Millionen Menschen sind auf der Flucht im eigenen Land

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    Auf der Flucht im eigenen Land: Eine Mutter geht in der von Dürre und Hunger geplagten äthiopischen Somali-Region mit ihren Kindern durch ein Flüchtlingsdorf.
    Auf der Flucht im eigenen Land: Eine Mutter geht in der von Dürre und Hunger geplagten äthiopischen Somali-Region mit ihren Kindern durch ein Flüchtlingsdorf. Foto: Kay Nietfeld, dpa

    Flüchtlinge, Asylbewerber, Migranten – sobald Menschen auf der Suche nach Schutz oder einem besseren Leben in großer Zahl Staatsgrenzen überschreiten, ist das politische und mediale Echo garantiert. Dann spielt – insbesondere nach den hohen Flüchtlingszahlen von 2015/16, mit denen Europa und insbesondere Deutschland konfrontiert waren – die Sorge eine große Rolle, dass wieder mehr Menschen über das Meer in Länder der Europäischen Union gelangen wollen. Viel geringer ist das Aufsehen, wenn es um Flucht und Vertreibung innerhalb eines Landes geht. Dabei ist Binnenvertreibung ein weltweites Phänomen, das viele Millionen Frauen, Männer und Kinder betrifft, Länder destabilisiert und für Gewalt und Leid sorgt.

    Die Politikwissenschaftlerin Anne Koch hat sich in ihrer Studie für die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) unter dem Titel „Auf der Flucht im eigenen Land“ mit dem Phänomen befasst – die Analyse ist letztlich ein Plädoyer für ein stärkeres internationales Engagement gegen die Ursachen für die Vertreibung innerhalb der Grenzen eines Staates. Koch weist auf einen für sie entscheidenden Unterschied hin: „Oft wird vergessen, dass die Binnenvertriebenen meist zu den ärmsten Gruppen in der jeweiligen Bevölkerung gehören. Für viele von ihnen würde die Überschreitung von Grenzen und erst recht die Flucht in entfernte Länder schon an den fehlenden Ressourcen scheitern.“ Es gilt dennoch als wahrscheinlich, dass Menschen, die aus Verzweiflung ihre Heimatregion verlassen, potenziell auch außer Landes fliehen. Koch: „Dazu gibt es leider keine verlässlichen Zahlen. Aber das ist natürlich eine nahe liegende Annahme.“

    Die Zahlen sind alarmierend: Weit mehr als 40 Millionen Menschen sind betroffen

    Die Zahlen sind alarmierend, und zwar schon seit vielen Jahren: Ende 2018 wurden laut einer Erhebung des Internal Displacement Monitoring Centers in Genf (IDMC) gut 41 Millionen Menschen innerhalb ihres Heimatlandes vertrieben oder befanden sich auf der Flucht. Sicher ist zudem, dass die Zahlen auch im vergangenen Jahr weiter nach oben gegangen sind. Zum Vergleich: Ebenfalls Ende 2018 wurden weltweit knapp 26 Millionen grenzüberschreitende Flüchtlinge hochgerechnet. Unstrittig ist also, dass es weltweit deutlich mehr Binnenvertriebene gibt als Menschen, die ihr Land verlassen.

    Statistisch naturgemäß noch nicht erfasst ist, inwieweit der weltweite Kampf gegen die Corona-Pandemie die Lage weiter verschärfen könnte. Es könne durchaus sein, dass die Aufmerksamkeit für Themen wie Binnenvertreibung sinkt, wenn der Fokus auf der Corona-Krise liegt, sagt Anne Koch im Gespräch mit unserer Redaktion. „Fluchtbewegungen innerhalb der Staaten könnten sich verstärken, weil viele Grenzen geschlossen sind und so eine grenzüberschreitende Flucht weiter erschwert wird.“

    Innerstaatliche Fluchtbewegungen spielen sich oft im Verborgenen ab 

    Die Gründe dafür, dass sich innerstaatliche Vertreibungen und Fluchtbewegungen oft im Verborgenen abspielen, sind ebenso vielfältig wie die Ursachen der Binnenflucht: Zum einen fehlt denjenigen, die sich innerhalb eines Landes auf den Weg machen, internationaler Schutz, der ihnen juristisch in dem Moment zukommt, in dem sie eine Grenze überqueren. Auch versuchen viele Regierungen, das Problem unter den Teppich zu kehren, weil sie um die Reputation ihres Landes fürchten oder Menschenrechtsverletzungen vertuschen wollen. Für die Expertin ist es auch unter diesem Aspekt wichtig, dass „sich die Erkenntnis durchsetzt, dass man die Probleme nur zusammen mit der jeweiligen Regierung lösen kann“. Es müsse in den betroffenen Ländern die Einsicht da sein, dass es im eigenen Interesse ist, die Fluchtursachen zu bekämpfen, um in einem zweiten Schritt den nationalen Entscheidungsträgern helfen zu können, die Probleme zu lösen.

    Dass der Weg dahin mitunter steinig ist, zeigt die Studie am Beispiel Äthiopien – ein Land, das über viele Jahrzehnte immer wieder von großen Vertreibungswellen geprägt war. Hungersnöte, ethnische Konflikte, staatliche Gewalt oder überdimensionierte Infrastrukturprojekte setzten Massen in Bewegung. Neue Hoffnung keimte auf, als der Reformer Abiy Ahmed im April 2018 Ministerpräsident wurde. Die weltweit beachtete politische Öffnung des Landes führte zunächst nicht zu einer Eindämmung der Flüchtlingszahlen. Im Gegenteil: Dürre und Überschwemmungen sowie innenpolitische Konflikte führten zu einem weiteren Anstieg der ohnehin bereits hohen Zahlen. Dennoch – dass die Regierung das Problem eingesteht und offen für Lösungsvorschläge ist, wird als Schritt in die richtige Richtung gewertet.

    Anne Koch unterscheidet bei den Ursachen für Binnenflucht und -vertreibung zwischen Bewegungen, die unter direkter staatlicher Beteiligung oder eben ohne direktes administratives Eingreifen entstehen: In die erste Kategorie fallen Kriege und gewaltsame Konflikte, aber auch große Infrastrukturvorhaben, wie beispielsweise große Staudammprojekte. In Kategorie zwei – Ursachen ohne direkte Beteiligung des Staates – führt Koch akute oder schleichende Naturkatastrophen sowie organisierte Kriminalität auf.

    Immerhin ist die Sensibilität für die Binnenvertreibung gewachsen

    All diese grundlegenden Probleme zeigen, wie schwer es ist, die Binnenvertreibung zu bekämpfen. Doch Anne Koch sieht Anhaltspunkte dafür, dass die Sensibilität für dieses Thema gewachsen ist. Nicht nur die Vereinten Nationen haben gezielte Programme gestartet, um betroffenen Staaten zu helfen, auch andere global agierende Organisationen wie das Internationale Rote Kreuz oder die Weltbank sind aktiv. „Ich sehe einen Hoffnungsschimmer, weil ich den Eindruck habe, dass pragmatische Ansätze stärker verfolgt werden und die Bereitschaft in einigen betroffenen Ländern wächst, aktiv zu werden“, sagt Anne Koch.

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