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Flüchtlingsdrama: Entwicklungsminister Müller: Wir dürfen uns nie an 800 Tote gewöhnen

Flüchtlingsdrama

Entwicklungsminister Müller: Wir dürfen uns nie an 800 Tote gewöhnen

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    Erst vergangene Woche wurden an einem Strand westlich der libyschen Hafenstadt Zuwara wieder mehr als 100 Leichen von ertrunkenen Flüchtlingen angespült.
    Erst vergangene Woche wurden an einem Strand westlich der libyschen Hafenstadt Zuwara wieder mehr als 100 Leichen von ertrunkenen Flüchtlingen angespült. Foto: afp

    Herr Müller, fast täglich gibt es jetzt wieder Bilder von Flüchtlingen, die die Reise übers Meer nicht überleben: von toten Kindern auf dem Arm von Rettern, von Leichen, die am Strand angespült werden. Das scheint alles längst Routine zu sein. Hat Europa vor dem Flüchtlingsdrama resigniert?

    Gerd Müller: In der vergangenen Woche sind 13000 Flüchtlinge übers Mittelmeer gekommen, vorwiegend aus afrikanischen Staaten. 800 sind ertrunken – und der Aufschrei blieb aus. Welcher Aufschrei ginge durch die Welt, wenn zwei Flugzeuge abstürzen würden! Wir dürfen uns nie an 800 tote Flüchtlinge gewöhnen. Wir müssen reagieren – in anderer Weise, als es bisher erfolgt ist. Die Weltflüchtlingsthematik wird uns die nächsten Jahrzehnte beschäftigen. Und die Frage ist: Geben wir die richtigen Antworten.

    Was sind die richtigen Antworten?

    Bis zu 200 Millionen Klimaflüchtlinge

    Müller: Wir müssen differenzieren. In Syrien und im Irak sind der Krieg und der Terror des IS-Regimes Auslöser für die Flucht. Aber die Generationen-Herausforderung der Migrations- und Fluchtbewegungen ist viel umfangreicher. In Afrika haben wir aktuell das Klimaphänomen El Niño – eine Hunger- und Dürrekatastrophe, die über zehn Millionen Menschen in ihrer Existenz betrifft und tausende in die Flucht treibt. Kein Wunder: Wenn die Temperatur auf 50 Grad steigt und es zwei Jahre lang nicht regnet, dann haben die Menschen keine Perspektive mehr und wandern in Richtung Norden. Wissenschaftler sagen für die nächsten Jahrzehnte 100 bis 200 Millionen Klimaflüchtlinge voraus. Eine weitere Herausforderung ist die Bevölkerungsentwicklung. Auf dem afrikanischen Kontinent wird sich die Bevölkerung in 30 bis 40 Jahren auf zwei Milliarden Menschen verdoppeln. Und all die Menschen brauchen zu essen und zu trinken, eine Arbeit, eine Zukunft.

    Sie fordern also, dass Deutschland und Europa sich in den Herkunftsländern engagieren?

    Müller: Wenn wir das nicht tun, werden wir in Europa einen hohen Preis dafür bezahlen. Inzwischen ist die Hälfte des Iraks vom IS befreit, die Menschen könnten dahin also zurück. Und trotzdem hausen sie immer noch in Garagen, Zelten oder Ziegenställen in den umliegenden Ländern. 90 Prozent der Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak sind noch in der Region – acht Millionen Menschen, die teilweise unter schlimmsten Bedingungen leben.

    Glauben Sie wirklich, die Flüchtlinge wollen zurück in ihre zerstörte Heimat?

    Müller: Ja. Ich war vor kurzem in Dohuk im Nordirak. Da haben mir zehn von zehn Bewohnern eines Zeltlagers gesagt, dass sie bleiben wollen, damit sie möglichst schnell zurück können, wenn Frieden herrscht. Niemand aus dieser Region will freiwillig nach Deutschland.

    Warum sind trotzdem im vergangenen Jahr eine Million Flüchtlinge zu uns gekommen?

    Müller: Weil wir sie allein gelassen haben. Und weil sie keine Perspektive in der Region haben. In den Flüchtlingslagern in den Nachbarländern Syriens und des Iraks mussten vergangenes Jahr sogar die Nahrungsmittelrationen gekürzt werden, weil dem Welternährungsprogramm das Geld ausgegangen ist.

    Aktuell warten allein in Libyen 800000 Flüchtlinge darauf, nach Europa aufbrechen zu können. Wie kann man das verhindern?

    "Erst einmal geht es ums Überleben der Menschen"

    Müller: Erst einmal geht es dort ums Überleben der Menschen. Und da hat die Weltgemeinschaft in den vergangenen Jahren massiv versagt. Sie hat die Augen davor verschlossen und die Menschen in ihrer Not allein gelassen. Ebenso wie sie auch Italien und Griechenland mit den ankommenden Flüchtlingen allein gelassen hat. Bei der Syrien-Hilfskonferenz in London wurden vor vier Monaten zehn Milliarden Euro Hilfe versprochen – zumindest auf dem Papier. Erst ein Drittel der Zusagen ist geflossen. Wir halten unsere Zusagen. Mein Ministerium hat in den vergangenen zwei Jahren die Mittel für die Hilfe auf fast eine Milliarde Euro verdreifacht.

    Wie kann man also helfen?

    Müller: Wir müssen vor Ort in den Wiederaufbau investieren. Denn die Menschen wollen zurück in ihre Heimat. Aber ihre Dörfer sind zerstört. Wir haben für 200 Millionen Euro das Wiederaufbau-Programm „Cash for Work“ gestartet. Wir helfen Rückkehrern mit Geld und Baumaterial, fördern Schulen und schaffen Jobs, indem wir kleine Gehälter zahlen an Menschen, die den Aufbau selbst voranbringen. Das Geld ist inzwischen verplant, wir bräuchten das Doppelte. In Deutschland benötigen wir das 20- bis 50-Fache, um die Menschen unterzubringen und zu integrieren.

    Wo sind die anderen Länder?

    Müller: Es haben immer noch nicht alle verstanden, dass es für Europa derzeit keine größere Herausforderung gibt als die Flüchtlingskrise. Deutschland geht mit seiner Kanzlerin bei diesem Thema voran – und es müssen sich all die anschließen, die sich nicht schuldig machen wollen an dieser größten humanitären Katastrophe seit Jahrzehnten.

    Kann man die europäischen Länder zwingen, bei der Lösung des Problems zusammen zu helfen?

    Müller: Ich erwarte Ideen und Initiativen aus Brüssel. Wer in Europa keine Flüchtlinge aufnimmt, soll in einen Fond einzahlen müssen. Und wenn dies nicht freiwillig geschieht, müssen die Gelder eben innerhalb des EU-Haushalts umgeschichtet werden. Mit zehn Milliarden Euro in einem Infrastrukturfond können wir in den verschiedenen Krisenregionen Straßen, Schulen, Wohnungen und Arbeitsplätze schaffen – und damit die Region stabilisieren.

    Ist da nur Europa gefordert?

    Nicht nur Europa gefordert

    Müller: Nicht nur. Auch Russland, die arabischen Staaten und die USA sind in der Pflicht. Die Welt hat folgenschwere Fehler gemacht. Und gerade die

    Ist die Türkei ein zuverlässiger Partner beim Lösung der Flüchtlingskrise?

    Der gebürtige Krumbacher Gerd Müller, 60, der in Kempten lebt, ist seit 2013 Entwicklungsminister.
    Der gebürtige Krumbacher Gerd Müller, 60, der in Kempten lebt, ist seit 2013 Entwicklungsminister.

    Müller: Vieles, was Erdogan macht und sagt, missbilligen wir – beispielsweise die Aufhebung der Immunität oder die Einschränkung der Pressefreiheit. Völlig inakzeptabel sind die jüngsten Äußerungen in Richtung deutscher Bundestagsabgeordneter mit türkischen Wurzeln. Auf der anderen Seite leistet die Türkei bei der Aufnahme von Flüchtlingen enorm viel, was nicht ausreichend dargestellt und gewürdigt wird: 800 Kilometer Grenze zu Syrien, drei Millionen Flüchtlinge in den eigenen Strukturen, der Kampf gegen IS. Die Türkei trägt hier eine Hauptlast.

    In welchen Punkten sind sich CSU und CDU in der Flüchtlingsfrage uneins?

    Müller: Innerhalb der Koalition sind wir uns einig darüber, dass der Zustrom begrenzt werden muss. Wir können 2016 nicht noch einmal eine Million Flüchtlinge in Deutschland integrieren. Wir bringen jetzt schon jedes Jahr 20 bis 30 Milliarden Euro für die Integration von Flüchtlingen auf, das ist nicht unendlich steigerbar. Wir können mit den Flüchtlingen nicht unser Problem des demografischen Fachkräftemangels lösen, denn es kommen eben nicht nur Ärzte und Facharbeiter zu uns. Auch die Kanzlerin hat sich im Übrigen klar für eine Reduzierung der Flüchtlingszahlen ausgesprochen.

    Das heißt, die CSU ist mit der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin zufrieden?

    Müller: Auf Drängen der CSU ist es zu wesentlichen Asylrechtsänderungen gekommen, beispielsweise die Einstufung der Balkanländer als sichere Herkunftsländer. Dadurch ist die Zahl der Flüchtlinge aus der Balkanregion auf null zurückgegangen. Auch ein Integrationsgesetz ist beschlossen. Wir von der CSU sind nah bei den Menschen und wissen, welche Sorgen und Ängste die Menschen vor Ort haben. Darum hat Ministerpräsident Seehofer richtigerweise eine Fortsetzung der Grenzkontrollen durchgesetzt.

    Führt das zu mehr Sicherheit?

    Müller: Die geplanten Anschläge in Düsseldorf haben gezeigt, dass wir in Deutschland eine extreme Bedrohungslage haben. Das Bundeskriminalamt geht 380 Hinweisen auf mutmaßliche Terroristen nach, die zum Teil mit den Flüchtlingsströmen ins Land gekommen sein sollen. Derzeit sind über 100000 nicht registrierte Personen im Land, da müssen wir nacharbeiten. Interview: Andrea Kümpfbeck

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