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Flüchtlingscamp: Die Rohingya sind ein Volk, das niemand haben will

Flüchtlingscamp

Die Rohingya sind ein Volk, das niemand haben will

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    Noor Begun, 40, hat alles verloren: ihren Mann, ihr Haus, ihr altes Leben. Jetzt lebt sie in einem Flüchtlingslager in Bangladesch. 
    Noor Begun, 40, hat alles verloren: ihren Mann, ihr Haus, ihr altes Leben. Jetzt lebt sie in einem Flüchtlingslager in Bangladesch.  Foto: Daniel Pilar

    Nachts, wenn es ruhig wird im Camp und ihre drei Kinder sich auf der dünnen Bastmatte an sie schmiegen, kommen die Bilder zurück. Dann sieht sie die Soldaten in ihr Dorf stürmen. Sie sieht, wie sie die einfachen Holzhütten anzünden, eine nach der anderen. Und sie hört die Schreie der Nachbarmädchen, aus dem Wald, in den die Männer sie gezerrt haben. Als Noor Begum von den Erinnerungen erzählt, die sie jede Nacht quälen, scheucht sie ihre beiden Söhne Mamun, 11, und Rabiul, 9, aus dem Zelt aus dünnen Bambusstöcken und schwarzer Plastikplane, das seit zwei Monaten ihr Zuhause ist. Ihr Blick wird starr. Die Stimme leise, weil die dreijährige Omar Salma in der Ecke schläft. Und weil die Erlebnisse ihr immer noch den Hals zuschnüren.

    Noor Begum schildert, wie zehn Männer über die jungen Mädchen herfallen und sie der Reihe nach vergewaltigen. Sie erzählt, dass die meisten das Martyrium nicht überleben. Und dass die Soldaten wahllos auf die Männer schießen, die sich ihnen in den Weg stellen. Die Kugeln durchlöchern den Oberschenkel ihres Mannes Mohammed Alam. Dann treiben die Soldaten die Männer zusammen und prügeln sie auf die Ladefläche eines alten Lastwagens. Noor Begum sieht ihren Mann erst zwei Tage später wieder. Da ist er schon tot – das Gesicht entstellt von der Säure, mit der sie ihn übergossen haben. „Ich musste ihn identifizieren“, sagt die 40-Jährige. „Sie haben mir gesagt: Ihr habt keinen Platz hier. Und dass wir aus ihrem Land verschwinden sollen.“

    Die UN sprechen in Myanmar von ethnischer Säuberung

    Ihr Land. Myanmar, das einstige Birma. Das Land der goldenen Pagoden und der weiten Tempelfelder. Hier spielt sich gerade die am schnellsten wachsende humanitäre Katastrophe der Welt ab, urteilen die Vereinten Nationen (UN). Der Völkermord an den muslimischen Rohingya. „Ein Paradebeispiel für ethnische Säuberung“, sagt der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Said Raad al Hussein.

    Hunderttausende Rohingya sind in den vergangenen drei Monaten von Myanmar nach Bangladesch geflohen.
    Hunderttausende Rohingya sind in den vergangenen drei Monaten von Myanmar nach Bangladesch geflohen. Foto: Daniel Pilar

    Gut eine Million Menschen der verfolgten Minderheit leben seit Generationen in Rakhine, dem ärmsten Bundesstaat Myanmars im Nordwesten des Landes. Britische Kolonialherren haben sie als billige Arbeitskräfte mitgebracht. Trotzdem betrachtet die buddhistische Mehrheit sie als illegale Einwanderer aus Bangladesch. 135 Ethnien bilden den ostasiatischen Vielvölkerstaat, für die Rohingya aber ist kein Platz.

    Die Junta-Generäle haben ihnen 1982 die Staatsbürgerschaft aberkannt. Seitdem sind sie staatenlos, rechtelos, verhasst. Sie sind weniger wert als Sklaven, werden wie Vieh behandelt. Systematisch diskriminiert und ausgegrenzt. Sie dürfen nicht arbeiten, nicht zur Schule, nicht ins Krankenhaus, das Dorf nicht verlassen. Es sei denn, sie zahlen Schmiergeld.

    Die Rohingya erzählen Gräuel-Geschichten

    Es sind die immer gleichen Gräuel-Geschichten, die die Rohingya-Flüchtlinge erzählen. Geschichten von Spähern, die tagsüber die hübschesten Mädchen im Ort ausfindig machen, um sie dann nachts zu vergewaltigen. Von brennenden Dörfern, von Folter, Gewalt, Erschießungen. Es sind Geschichten von Kindern, die zuschauen müssen, wie ihre Eltern hingerichtet werden. Von Müttern, deren Babys die Soldaten ins Feuer werfen. Geschichten von Söhnen, Vätern und Großvätern, die verschwinden und nie mehr wieder auftauchen. Oder von Töchtern, die im Gefängnis eingekerkert sind. Niemand kann diese Geschichten nachprüfen. Doch es sind zu viele und sie ähneln sich zu sehr, als dass sie erfunden sein könnten.

    Sie roden die Hügel, legen Terrassen an, um dort dann Zelte aus Plastikplanen und Bambusstöcken aufstellen zu können.
    Sie roden die Hügel, legen Terrassen an, um dort dann Zelte aus Plastikplanen und Bambusstöcken aufstellen zu können. Foto: ED JONES, afp

    Schon seit den 1970er Jahren fliehen Rohingya ins Nachbarland Bangladesch, vor der derzeitigen Krise sollen es rund 200.000 gewesen sein. Bis am 25. August dieses Jahres der Konflikt eskaliert, als muslimische Rebellen rund 30 Polizei- und Militärposten in Rakhine angreifen. Nobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, De-facto-Regierungschefin von Myanmar, spricht nach den Attacken von „bengalischen Terroristen“ – und lässt das Militär gewähren. Das reagiert sofort mit Gegengewalt: mit Razzien und „Räumungsoperationen“. So wie in Noor Begums Dorf Cindyprung. Nach Angaben der Organisation „Human Rights Watch“ zeigen Satellitenbilder, dass mindestens 288 Rohingya-Dörfer niedergebrannt sind.

    Noor Begum läuft mit ihren Kindern zehn Tage lang durch den Dschungel. Ohne Essen, ohne ausreichend Wasser und mit zwei Plastiktüten voller Habseligkeiten auf dem Rücken. Ein ganzes Volk, das keiner haben will, ist seit Ende August auf dem schmalen Streifen Land zwischen Myanmar und Bangladesch unterwegs. In einer Art Niemandsland, durch das sich der dreckig-grüne Grenzfluss Naf schlängelt. Er ist zwei, vielleicht drei Kilometer breit, schlammig, sumpfig, von Reis bewachsen und von Soldaten bewacht. Hier warten die Flüchtlinge tagelang in der sengenden Hitze oder im strömenden Regen, bis sie schubweise hineingelassen werden ins sichere Bangladesch. „Drüben in Myanmar vergräbt die Armee gerade Landminen“, sagt ein hochrangiger Militär aus Bangladesch und deutet über die Grenze, „um die Rohingya an der Rückkehr zu hindern“. Falls sie überhaupt jemals zurück wollten.

    Mehr als die Hälfte der Flüchtlinge sind Kinder

    Erschöpft und halb verhungert erreichen Noor Begum und ihre Kinder den rettenden Fluss. Sie bekommen Plätze auf einer Fähre, die aus alten Ölfässern und dicken Seilen zusammengeschnürt ist. Der Fährmann verlangt umgerechnet 40 Euro pro Person für die Überfahrt. So viel Geld hat Noor Begum nicht. Viele der anderen Flüchtlinge auch nicht. Er nimmt ihr den goldenen Ring ab, der ihr von ihrem Mann geblieben ist. Den anderen die Ohrringe, Armreife, Halsketten.

    Die Rohingya-Flüchtlinge müssen oft weit laufen, um an sauberes Wasser zu kommen.
    Die Rohingya-Flüchtlinge müssen oft weit laufen, um an sauberes Wasser zu kommen. Foto: MUNIR UZ ZAMAN, afp

    620.000 Menschen sind nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) seit August im Küstenbezirk Cox’s Bazar im Südwesten von Bangladesch angekommen. Mehr als die Hälfte von ihnen sind Kinder. Und die meisten sind laut der Weltgesundheitsorganisation unterernährt. Sie alle stranden in einem Staat, der nur halb so groß ist wie Deutschland, aber doppelt so viele Einwohner hat. Bangladesch ist eines der am dichtesten besiedelten Länder der Welt. Und eines der ärmsten obendrein, aus dem jedes Jahr noch mehr Menschen vor Armut und dem Klimawandel flüchten – meist in Richtung Europa.

    In Cox’s Bazar, das mit einem 120 Kilometer langen Sandstrand um Urlauber aus Bangladeschs Mittelschicht wirbt, entsteht gerade das größte Flüchtlingscamp der Welt. In den Strandrestaurants der Sterne-Hotels, die „Ocean Palace“ oder „Royal Beach Ressort“ heißen, gibt es Fisch und Meeresfrüchte und für 15 Dollar einen ganzen Hummer.

    Es fehlt in den Flüchtlingslagern an allem

    Keine 20 Kilometer weiter organisieren die Rohingya-Flüchtlinge rund um die Uhr ihr Überleben. Die Camps sind zu riesigen Städten des Elends geworden, an deren Rändern sich täglich neue Menschen ansiedeln. Sie roden die Hügel des wenigen Landes, das noch frei ist; legen Terrassen an, auf denen sie zeltähnliche Verschläge bauen. Und kilometerweit sieht man nichts als ein Meer aus schwarzen, grünen oder orangefarbenen Plastikplanen. An einer der wenigen Wasserpumpen im Camp waschen die Kinder ihre Füße und die Frauen die Wäsche. Ein paar Männer tragen auf einem umgedrehten Bettgestell den Leichnam eines alten Mannes vorbei, den die Angehörigen in ein weißes Leintuch gewickelt haben.

    Das Baby von Halima Khaton ist auf der Flucht zur Welt gekommen: Zwei Tage, nachdem die Familie die rettende Grenze nach Bangladesch überschritten hat.
    Das Baby von Halima Khaton ist auf der Flucht zur Welt gekommen: Zwei Tage, nachdem die Familie die rettende Grenze nach Bangladesch überschritten hat. Foto: Andrea Kümpfbeck

    Ein Stück weiter hocken die Menschen über Stunden in langen Reihen, um einen Sack Reis, eine Flasche Öl oder ein Stück Seife zu bekommen. Sie weiß nicht, wofür sie heute ansteht, sagt Shanjida, die seit sechs Stunden wartet. Auf der Karte mit ihrer Registriernummer ist das heutige Datum notiert. Und das bedeutet: Sie bekommt etwas. Alle 18 Tage darf sich jeder Flüchtling in die Schlange stellen. An diesem Morgen werden es Decken und Bettbezüge sein, die von den Helfern verteilt werden. „Die kann ich gegen Linsen tauschen“, sagt Shanjida und lächelt glücklich.

    Denn es fehlt an allem. An Essen, an sauberem Wasser, an Latrinen. 170 Familien müssen sich sechs Toiletten teilen. Die internationalen Hilfsorganisationen kommen gar nicht hinterher mit dem Verteilen und dem Versorgen der Kranken, die Durchfall haben, eine Lungenentzündung oder Krätze. Und jeden Tag kommen weitere 1000, manchmal auch 3000 neue Flüchtlinge dazu. Bangladesch ist völlig überfordert mit der schieren Masse an Hilfesuchenden. Premierministerin Sheikh Hasina droht damit, die Rohingya auf eine unbewohnbare Insel auszusiedeln – vermutlich ein Hilferuf, um die Weltgemeinschaft auf die Probleme mit den Flüchtlingen aufmerksam zu machen. Trotzdem sieht man jeden Tag Lastwagen voller Hilfsgüter nach Cox’s Bazar kommen, die die Bevölkerung des armen Landes für die Rohingya gesammelt hat.

    Angehörige der muslimischen Minderheit Rohingya tragen einen Verstorbenen über eine Brücke zum Friedhof.
    Angehörige der muslimischen Minderheit Rohingya tragen einen Verstorbenen über eine Brücke zum Friedhof. Foto: Wong Maye-E., dpa

    Noor Begum und ihre Kinder sind inzwischen registriert, die Familie hat die Nummer B463854. Auch wenn ihre neue Heimat nur aus einer Plastikplane, einer Bastmatte, ein paar Schüsseln und einer Alukanne zum Wasserholen besteht, sind sie glücklich. „Denn hier, in diesem muslimischen Land, sind wir sicher“, sagt Noor Begum. Ob sie jemals wieder zurück will nach Myanmar? „Auf gar keinen Fall“, sagt sie. „Denn dort werden wir immer die Ausgestoßenen sein.“

    Wer den Rohingya in Bangladesch helfen will, kann dies über die Welthungerhilfe tun. Sie verteilt in den Flüchtlingslagern in Cox’s Bazar Nahrungsmittelpakete und Hygienesets. Das Spendenkonto hat die IBAN DE15 3705 0198 0000 0011 15. Mehr Informationen gibt es auch unter www.welthungerhilfe.de.

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