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Flüchtlinge: Schüsse im Niemandsland zwischen Polen und Belarus

Flüchtlinge

Schüsse im Niemandsland zwischen Polen und Belarus

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    Migranten versammeln sich an der belarussisch-polnischen Grenze an einem Feuer, um sich zu wärmen.
    Migranten versammeln sich an der belarussisch-polnischen Grenze an einem Feuer, um sich zu wärmen. Foto: Ramil Nasibulin, dpa

    Ein Mann ruft „Dawaj“. Dann fällt ein Schuss. Das polnische Verteidigungsministerium veröffentlicht ein kurzes Video, das zeigen soll, wie belarussische Soldaten Warnschüsse abgeben. Angeblich, um Migranten einzuschüchtern. Doch ist das so? „Dawaj“ ist zwar Russisch und heißt so viel wie „Los, macht!“. Aber der Schütze steht diesseits des Nato-Drahtes, den polnische Soldaten an der Grenze ausgerollt haben. Die Geflüchteten harren aber jenseits des Zauns aus. Ruft hier also ein Pole „Dawaj“ und schießt, um belarussische Soldaten der Aggression beschuldigen zu können? Das Video lässt viele Fragen offen – und Beobachter dürfen sich in der abgeriegelten Zone noch immer kein eigenes Bild machen. Sicher ist nur, dass im Niemandsland inzwischen geschossen wird.

    Lukaschenko wettert gegen EU-Politiker und spricht von hybridem Krieg

    Dazu passen die martialischen Töne aus Warschau und Minsk. Hier wie dort ist weniger von einer Migrationskrise die Rede als vielmehr von einem „hybriden Krieg“, also von Angriffen mit nicht militärischen Mitteln. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko tönt: „Sie (die EU-Politiker) haben Sanktionen verhängt und einen hybriden Krieg angezettelt. Und diese Bastarde, diese Verrückten wollen, dass ich sie vor Migranten beschütze?“ Lukaschenkosagt das in einem Interview mit der Moskauer Militärzeitung Nationale Verteidigung.

    Er versichert zwar, die Atommacht Russland nicht in den Konflikt hineinziehen zu wollen. „Aber wir werden nicht in die Knie gehen“, verspricht er und mahnt: „Zu den Waffen zu greifen, bedeutet in der modernen Welt den Tod. Das ist Selbstmord.“

    Kaum weniger zimperlich in ihrer Wortwahl sind polnische Politiker. Vor allem die rechtsnationale PiS-Regierung rührt seit Tagen die Kriegstrommel. Premier Mateusz Morawiecki beschuldigt den russischen Präsidenten Wladimir Putin, Belarus zur Manövriermasse seiner „imperialen Politik“ zu machen. Im Parlament erklärt er: „Lukaschenko ist nur der Vollstrecker. Der Auftraggeber ist Putin. Er ist entschlossen, das russische Reich wieder aufzubauen. Wir Polen werden Widerstand leisten.“ Und dann erinnert Morawiecki an die „prophetischen Worte“ des früheren Präsidenten Lech Kaczynski, der 2010 beim Flugzeugabsturz von Smolensk starb. „Heute Georgien, morgen die Ukraine, und später kommt auch mein Land an die Reihe“, hatte Kaczynski während des russisch-georgischen Kriegs 2008 bei einem Besuch in Tiflis gesagt.

    Polen fordert Nato-Unterstützung - Merkel will vermitteln

    Ist nun also, sieben Jahre nach der russischen Krim-Annexion, Polen an der Reihe? In Brüssel und Berlin hält man die Rufe aus Warschau nach Nato-Unterstützung für übertrieben – angesichts von wenigen tausend Migranten an der Grenze. Angela Merkel unternimmt am Mittwoch einen Vermittlungsversuch. Die Bundeskanzlerin ruft bei Putin an und bittet ihn, mäßigend auf Lukaschenko einzuwirken. Die Instrumentalisierung von Migranten nennt sie „inakzeptabel“. Putins Sprecher Dmitri Peskow betont dagegen, die belarussischen Behörden handelten „verantwortlich“. EU-Ratspräsident Charles Michel bemüht sich in

    Doch in Warschau setzt man lieber auf eigene Stärke. Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak teilte seinen Landsleuten am Mittwochmorgen mit: „15.000 Soldaten schützen unsere Grenze und verteidigen das Vaterland gegen die Angriffe des Lukaschenko-Regimes.“ Es sei eine „unruhige Nacht“ gewesen, räumt er ein. Gemeint sind mehrere „Durchbrüche“ von Migranten in der Region des Bialowieza-Urwalds. Dort überwinden in der Nacht rund 300 Schutzsuchende die Sperranlagen. Die Grenzpolizei teilt mit, dass alle „illegal Eingereisten“ zurückgeführt worden seien. Von der humanitären Katastrophe, die sich an der EU-Außengrenze abspielt, spricht die polnische Regierung bestenfalls in Nebensätzen.

    Geflüchtete leiden unter Kälte und Versorgungslage

    Dabei ist die Lage angesichts des eisigen Novemberwetters dramatisch. Nachts fallen die Temperaturen regelmäßig unter die Frostgrenze. Hinzu kommen die Feuchtigkeit der sumpfigen Waldregionen und teils schneidende Winde. Polnische Behörden erklären, dass der belarussische Grenzschutz alle Versuche unterbinde, die Geflüchteten mit Essen, Getränken, warmer Kleidung und Thermoschlafsäcken auszurüsten. Stattdessen gebe es eine inszenierte Versorgung vor den Kameras des eigenen Staatsfernsehens. Sobald die abgeschaltet seien, gebe es auch kein Essen mehr. Allerdings versperrt der polnische Grenzschutz seinerseits allen Hilfsorganisationen den Zugang zu den Notleidenden, sogar dem Roten Kreuz. Vizeaußenminister Marcin Przydacz erteilt allen Hoffnungen, Lukaschenko könnte wegen des nahenden Winters ein Einsehen haben, eine Absage: „Darauf deutet nichts hin.“

    Polnische Polizisten und Grenzschützer stehen in Grodno am Stacheldrahtzaun.
    Polnische Polizisten und Grenzschützer stehen in Grodno am Stacheldrahtzaun. Foto: Leonid Shcheglov, BelTA, dpa

    Im Gegenteil. Der nationale Sicherheitsberater von Staatspräsident Andrzej Duda, Pawel Soloch, erklärt, die Krise werde sich „ohne jeden Zweifel“ in den nächsten Tagen fortsetzen und vermutlich sogar verschärfen. Warschauer Medien berichten unter Berufung auf Geheimdienstkreise, dass vor allem der polnische Nationalfeiertag an diesem Donnerstag als kritisches Datum gilt. Lukaschenko könnte den Tag nutzen, um neue Zusammenstöße wie zu Wochenbeginn bei Kuznica zu provozieren, als polnische Polizisten Tränengas gegen Migranten einsetzten. Dazu passen Berichte in oppositionellen belarussischen Nachrichtenkanälen. Demnach sollen sich weitere große Gruppen von Migranten aus Minsk auf den Weg Richtung Grenze gemacht haben.

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