Tarantinos Augen sollen gestrahlt haben. So zumindest erzählt es die Legende. Mit seinen Händen habe er den Boden und die Wand der Marlene-Dietrich-Halle berührt, für einen kurzen Moment innegehalten, Luft geholt und gelächelt. Als habe er schon lange darauf gewartet, den Mythos Babelsberg am eigenen Leib zu spüren.
Klassiker der Filmgeschichte
„In diesem Studio sind die Klassiker des frühen deutschen Kinos entstanden“, sagt Eike Wolf und klopft gegen das kahle Mauerwerk, das noch aus den 1920er Jahren stammt, den Jahren, in der die Babelsberger Filmstudios vor den Toren Berlins ihre erste Blütezeit erlebten. „Metropolis“, „Melodie des Herzens“, „Der blaue Engel“ – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Filmklassiker, die offenbar auch Kultregisseur Quentin Tarantino so beeindruckt haben.
2008 ließ er seinen Streifen „Inglourious Basterds“ in Babelsberg produzieren. Sieben Jahre zuvor hatte Roman Polanski im Potsdamer Vorort gedreht. Sein Holocaust-Drama „Der Pianist“ gewann drei Oscars. Die internationale Großproduktion habe dem Standort einen Schub gegeben, wird Eike Wolf später erzählen. Er ist der Sprecher des Studios, das 2005 an die Börse gegangen ist. 100 Jahre nach Gründung des größten deutschen Filmateliers kommt Hollywood wieder gerne und oft nach Babelsberg. Dessen lange Geschichte ist damit um ein weiteres Kapitel reicher geworden.
Feueralarm wegen heißer Scheinwerfer
Die Geschichte beginnt in den Wintermonaten des Jahres 1911. In Hollywood hat gerade das erste Filmstudio eröffnet, als Kameramann Guido Seeber in dem verschlafenen Nest Babelsberg südlich von Berlin ein riesiges brachliegendes Gelände entdeckt. Für Seeber ist es der perfekte Standort, um Filme zu drehen. Bisher haben die Berliner Filmschaffenden in der Innenstadt regelmäßig Feueralarm ausgelöst, wenn sie in ihren kleinen Ateliers experimentierten. Unter den heißen Scheinwerfern ging das leicht brennbare Zelluloid rasend schnell in Flammen auf. Fortan dreht man also in Babelsberg. Im Februar 1912 fällt die erste Klappe – „Der Totentanz“, ein Stummfilm mit dem dänischen Star Asta Nielsen.
Die versmogte Innenstadt
„Die Berliner Innenstadt war in jener Zeit auch viel zu versmogt, um gute Filme zu machen“, sagt Wolf und öffnet die Tür zum riesigen Kostümfundus. Ein bisschen riecht es dort wie in Omas altem Kleiderschrank. „Hier lagern über 250000 Kleidungsstücke“, sagt Wolf. Die Regale sind voll bis an die Decke. Geordnet nach historischen Epochen hängen Blusen, Röcke und Ballkleider neben Uniformen und Gefängnisklamotten. In einer anderen Abteilung reiht sich eine Pickelhaube an die andere. Filmgeschichte zum Anfassen. Eine Etage höher geht es in die Schatzkammer des Fundus. „Das hier hat Kate Winslet in ,Der Vorleser‘ getragen“, sagt Wolf. Er zeigt auf die Schaufensterpuppe mit der blauen Nazi-Uniform, direkt neben dem Stauffenberg-Kostüm von Tom Cruise.
„Der Produzent eines Films findet bei uns alles, was er braucht“, sagt Wolf. Man orientiere sich an der ursprünglichen Idee eines Filmstudios. So wie es sie früher gegeben habe, in den Anfangsjahren des Films. Anders als in Hollywood, wo große Bereiche des Filmhandwerks heute ausgegliedert seien, verfügt Babelsberg noch über eigene Kostüm- und Maskenbildner, Schneider, Dekorateure, Requisiteure und Kulissenhandwerker. „Kulissen werden seit 100 Jahren gleich gebaut. Auf diese Tradition setzen wir“, sagt Wolf.
Als Goebbels die Führung übernahm
Gerade in der Frühphase von Babelsberg bringt es das deutsche Filmhandwerk zu Weltruhm. „Hier wurde unglaublich viel Pionierarbeit geleistet“, sagt Wolf. So sei an diesem Ort unter anderem die bewegliche Kamera erfunden worden. Nach dem Einstieg der Universum Film AG (Ufa) in den 1920er Jahren feiert Babelsberg Erfolge wie am Fließband. Schauspielerin Marlene Dietrich oder Regisseur Fritz Lang begeistern das Publikum. Doch die Erfolgsgeschichte endet jäh.
Mit der Machtergreifung Hitlers wird die Ufa verstaatlicht. Filmemacher wie Josef von Sternberg oder Ernst Lubitsch verlassen Deutschland und suchen ihr Glück in Hollywood. In Babelsberg übernimmt Propagandaminister Joseph Goebbels die Führung. Unter seiner Regie produzieren die Studios einen Unterhaltungsstreifen nach dem anderen. Filme wie „Münchhausen“ oder „Die Feuerzangenbowle“ entstehen. Stars der Zeit sind Zarah Leander, Heinz Rühmann oder Hans Albers. Das kriegsmüde Volk soll bei Laune gehalten werden. Die Filmproduktion läuft bis 1945 auf Hochtouren, neben Gute-Laune-Produktionen entstehen antisemitische Filme wie „Jud Süß“ oder der Durchhaltestreifen „Kolberg“.
Nach dem Krieg erneut verstaatlicht
Einer, der diese Zeit intensiv erforscht hat, ist Filmhistoriker Andy Räder. Nicht nur der Nationalsozialismus habe Babelsberg geprägt, sagt der Kurator der Dauerausstellung im Filmmuseum Potsdam, die auf die vergangenen 100 Jahre in Babelsberg zurückblickt. Zur wechselvollen Geschichte des Standorts, sagt Räder, gehöre neben Goebbels auch die Defa-Periode. Sie folgt auf das Ende der Nazi-Zeit. Wieder sind die Studios in staatlicher Hand. Über 1000 Spiel- und Fernsehfilme werden von der Deutschen Film AG, kurz Defa, produziert, diesmal unter sozialistischen Vorzeichen. Darunter sind Klassiker wie „Die Mörder sind unter uns“ mit Hildegard Knef, „Die Legende von Paul und Paula“ oder „Auf der Sonnenseite“ mit dem späteren Tatort-Kommissar Manfred Krug in der Hauptrolle.
Mit dem Untergang der DDR endet die staatliche Lenkung in Babelsberg. Die Treuhand verkauft die Filmstudios an den französischen Konzern Compagnie Générale des Eaux, heute Vivendi. Ab sofort muss sich Babelsberg auf dem freien Markt behaupten. Der große unternehmerische Erfolg bleibt zunächst aus. „Die Anfangsjahre waren schwer“, sagt Unternehmenssprecher Wolf. 2004 übernehmen die Filmproduzenten Carl Woebcken und Christoph Fisser die Studios.
Ein Jahr später geht Babelsberg an die Börse. In den Folgejahren entwickelt man sich schrittweise zu einem Dienstleister für Filmemacher. So produziert unter anderem das Nachfolgeunternehmen der Ufa die tägliche RTL-Seifenoper „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ in den Studios. Gleichzeitig sollen die internationalen Großproduktionen nach Potsdam gelockt werden. Babelsberg sorgt dafür, dass aus einem Drehbuch ein Film wird, stellt die Studios bereit, baut Kulissen und stellt Anträge für Mittel aus der Filmförderung. Vorbild ist das alte Studiomodell, das alle Bereiche der Filmproduktion in sich vereint. Bis auf die Geschichten, die entstehen anderswo. „Wir bauen auf unsere langjährigen Erfahrungen gerade im Filmhandwerk“, sagt Wolf.
Ein Sammelsurium künstlich erschaffener Welten
Im Kunstmaleratelier zeigt er, was er damit meint. An den Wänden hängen Einzelteile vieler künstlich erschaffener Welten, aus Pappe gefertigte Hausfassaden, auf alt gemachte Fußböden. „Für den Hollywood-Film ,Unknown Identity‘ ist hier das komplette Interieur des Hotels Adlon nachgebaut worden“, erzählt Wolf. Auf diese Stärken wolle man sich in Babelsberg konzentrieren und Stoffe renommierter Filmemacher zum Leben erwecken. Seit Polanski kämen auch die Großen wieder nach Potsdam. „Wir brauchen diese internationalen Projekte“, sagt Wolf. Allein mit deutschen Filmen könnte das Studio kaum überleben. Jedes Jahr aufs Neue müsse man sich auf dem globalen Filmmarkt behaupten, so der Unternehmenssprecher.
Und was ist das Erfolgsrezept für die Zukunft? Gute Geschichten, sagt Filmhistoriker Räder. Daran habe sich in den vergangenen 100 Jahren nichts geändert.