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Extremismus: Gewaltbereitschaft von Extremisten könnte durch die Corona-Krise steigen

Extremismus

Gewaltbereitschaft von Extremisten könnte durch die Corona-Krise steigen

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    Eine Teilnehmerin einer Veranstaltung der NPD. Das gesellschaftliche Klima ist nicht erst seit der Corona-Krise angespannt. Verfassungsschutzchef Haldenwang warnt vor „geistigen Brandstiftern“.
    Eine Teilnehmerin einer Veranstaltung der NPD. Das gesellschaftliche Klima ist nicht erst seit der Corona-Krise angespannt. Verfassungsschutzchef Haldenwang warnt vor „geistigen Brandstiftern“. Foto: Carsten Rehder, dpa

    Der Verfassungsschutz berichtet von einem deutlichen Anstieg rechts- und linksextremistischer Straftaten im vergangenen Jahr. Eine Entwicklung, die sich noch verschärfen könnte, befürchtet der Politikwissenschaftler Hajo Funke: "Die Corona-Krise hat Potenzial für ein Anwachsen der extremistischen Ränder. Denn die Menschen sorgen sich doppelt, um ihre Gesundheit und um ihren ökonomischen Status." Das, so Funke weiter, mache die Leute sauer. Aber sie wüssten nicht, wohin mit ihren Aggressionen. Die Gewaltbereitschaft könne sich so "durchaus erhöhen", sagte der Extremismusforscher.

    Für Bundesinnenminister Horst Seehofer geht "die größte Bedrohung für die Sicherheit in Deutschland von rechts aus". Wie der CSU-Politiker am Donnerstag in Berlin bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2019 sagte, bilden "Antisemitismus, Fremden- und Islamfeindlichkeit weiter die Schwerpunkte" rechtsextremistischer Umtriebe. Die Zahl der rechtsextremistischen Straftaten stieg laut Verfassungsschutz um zehn Prozent auf 22.300. Zwar seien unter den Fällen insgesamt weniger Gewalttaten zu verzeichnen, allerdings eben auch "erschreckende rechtsextremistische Tötungsdelikte". Seehofer verwies auf die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke und den Anschlag auf die Synagoge in Halle (Saale), bei dem ein Rechtsextremist zwei Menschen erschoss.

    Die Zahl der als rechtsextrem eingestuften Personen ist im Vergleich zu 2018 von gut 24.000 auf mehr als 32.000 gestiegen. Das hat vor allem damit zu tun, dass die Mitglieder von zwei AfD-Unterorganisationen neu als Verdachtsfälle hinzugekommen sind: die "Junge Alternative" und der inzwischen zumindest offiziell aufgelöste "Flügel". Insgesamt etwa 13.000 Rechtsextremisten gelten auch als gewaltbereit. Der sogenannten Neuen Rechten warf Thomas Haldenwang, der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, vor, dass sie "bestimmten Personengruppen" ihre Menschenwürde abspreche "und Gewalt gegen sie legitimiert". Er forderte: "Wir müssen auch die geistigen Brandstifter benennen, die das bislang Unsagbare als ihren Schlagring nutzen."

    Wie Haldenwang berichtete, ist aber auch die Zahl der linksextremistischen Straftaten gestiegen. Und das sogar um rund 40 Prozent auf gut 6400 Fälle. Zwar sei auch hier die Zahl der Gewalttaten rückläufig, doch es gebe einige besorgniserregende Entwicklungen. Dass sich Gewalt aus dem linken Spektrum eher gegen Sachen als gegen Personen richte, sei immer weniger gültig. So sei eine Immobilienmaklerin in ihrer Wohnung von mutmaßlichen Linksextremisten zusammengeschlagen worden. Und der Anstieg der linksextremen Straftaten sei erfolgt, ohne dass es 2019 eine Großveranstaltung mit Massenprotesten gegeben habe. Immer öfter würden linke Straftaten nicht bei Demonstrationen, sondern geplant und heimlich von Kleingruppen verübt. Die Gesamtzahl der Linksextremisten ist von 32.000 auf 33.500 gestiegen.

    650 Menschen wird in Deutschland ein Terroranschlag zugetraut

    Keinen Anlass zur Entwarnung sieht der Verfassungsschutz, was die Szene der sogenannten Reichsbürger und Selbstverwalter betrifft. Dabei handelt es sich um rund 19.000 in Kleingruppen organisierte Personen, die die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland ablehnen.

    Nach wie vor geht der Verfassungsschutz davon aus, dass die Gefahr eines islamistischen Terroranschlags in Deutschland hoch ist. Die Terrormiliz "Islamischer Staat" sei weiter aktiv, obwohl sie in Syrien und im Irak keine Gebiete mehr kontrolliere. Und auch die Terrororganisation "Al-Kaida" sei "noch nicht tot". Über das Internet würden die Extremisten in Deutschland zum Terror aufgerufen. Ihre Zahl ist leicht auf 28.000 Personen gestiegen. Davon gelten 650 als "Gefährder", denen ein Terroranschlag zugetraut wird.

    Weiterhin sei Deutschland in hohem Maße Ziel von Cyberangriffen und Spionage. Selbst vor Mord auf deutschem Boden schreckten ausländische Geheimdienste nicht zurück. Der Verfassungsschutz sieht "zureichende tatsächliche Anhaltspunkte", dass die Ermordung eines Georgiers in Berlin von "staatlichen russischen Stellen" beauftragt worden sein könnte.

    In der Großen Koalition gibt es Streit über mehr Befugnisse für den Verfassungsschutz

    Um den Extremismus besser bekämpfen zu können, fordert die Union "zeitgemäße Befugnisse" für die Sicherheitsbehörden. Laut Horst Seehofer dauern die Gespräche mit der SPD über eine Reform des Verfassungsrechts an. Ziel sei es, eine Einigung bis Ende Juli zu erzielen. Der Verfassungsschutz, so Mathias Middelberg (CDU), innenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion, brauche etwa die Erlaubnis zur Online-Durchsuchung. Der Koalitionspartner SPD aber nehme in dieser Frage eine "Verweigerungshaltung ein, dies sei unverständlich, kritisierte Middelberg. FDP-Innenexperte Benjamin Strasser konterte: "Die gefährliche Entwicklung des politischen Extremismus – insbesondere die Gefahr durch Rechtsterroristen – hätte dem Verfassungsschutz auch ohne erweiterte Befugnisse lange auffallen müssen." Spätestens nach der Aufdeckung der NSU-Mordserie sei dies "mehr als offensichtlich", so Strasser. Das Problem sei, dass der Verfassungsschutz lange keinen Wert darauf gelegt habe, die rechte Szene zu beobachten. Strasser weiter: "Es ist deshalb ein politischer Taschenspielertrick, dass insbesondere CDU und CSU im Schatten dieser Entwicklung die Überwachungsmöglichkeiten für den Verfassungsschutz maximal ausweiten möchten."

    Für Ende September kündigte Minister Seehofer nun auch das von ihm beim Verfassungsschutz in Auftrag gegebene Lagebild zu Rechtsextremismus in den Sicherheitsbehörden an. Zu der Debatte um eine Studie zu rassistischen Kontrollen durch die Polizei, für die sich unter anderem Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) ausgesprochen hatte, sagte Innenminister Seehofer, er habe eine solche Studie bislang weder geplant noch abgesagt.

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