Fast schon verzweifelt beklagten die Unterstützer Julian Assanges seit Monaten, dass das Schicksal des Wikileak-Gründers in Vergessenheit gerät. Damit dürfte es jetzt vorerst vorbei sein – und das hat gleich mehrere Gründe. Einmal ist es mit dem jahrelangen Stillstand in diesem beispiellosen Fall vorbei, andererseits mehren sich weltweit die öffentlichkeitswirksamen Aufrufe, den Gründer der Enthüllungsplattform aus britischer Haft zu entlassen. Und dann sind da die brisanten Vorwürfe des UN-Sonderberichterstatters Nils Melzer, der bei Assange Anzeichen von „psychologischer Folter“ wahrgenommen haben will. Zudem hat er in mehreren Interviews von manipulierten Beweisen und staatlichen Verstößen gegen rechtsstaatliche Grundsätze gesprochen. Träfe eine der beiden Anschuldigungen zu, würde sich ein internationaler politischer Skandal anbahnen.
Einen internationalen Aufruf von 1200 Journalisten gibt es bereits
Nachdem sich rund 1200 Journalisten aus fast 100 Ländern bereits unter dem Schlagwort „Speak up for Assange“ („Ergreife das Wort für Assange“) für den Inhaftierten einsetzen, forderten am Donnerstag in Berlin mehr als 130 Politiker, Künstler und Journalisten die sofortige Freilassung des australischen Polit-Aktivisten. Ihre Hauptforderung: Großbritannien soll Assange aus medizinischen und menschenrechtlichen Gründen aus der Haft entlassen. Zu den Unterzeichnern der Erklärung gehören unter anderen zehn ehemalige Bundesminister wie der frühere Außenminister Sigmar Gabriel (SPD), der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff oder die Schriftstellerin Elfriede Jelinek. Wallraff, der Initiator der Aktion, spannt den Bogen weiter: Für ihn geht es um die Verteidigung der Meinungs- und Pressefreiheit. Sein Argument: Wenn Journalisten und Whistleblower befürchten müssten, die Aufdeckung staatlicher Verbrechen mit „Einkerkerung“ oder ihrem Leben zu bezahlen, sei die „vierte Gewalt“ im Staate in Gefahr.
Bei einer Auslieferung wird sich Assange auch in den USA vor Gericht verantworten müssen. Dort ist er der Spionage angeklagt – und zwar nach einem Gesetz von 1917, das im Ersten Weltkrieg verabschiedet wurde, um feindlichen Geheimagenten das Handwerk zu legen. Nach dem sogenannten „Espionage Act“ droht ihm eine Haftstrafe von bis zu 175 Jahren.
Seit April 2019 sitzt Assange im Hochsicherheitsgefängnis ein
Bei seinem letzten öffentlichen Auftritt erschien Julian Assange frisch rasiert, im weißen Hemd und mit blauem Jackett. Das war im November 2019, als er sich zur Anhörung am Westminster Magistrates’ Court in London einfand. Doch sein Aussehen täuschte Zeugen und auch Vertrauten zufolge über seinen wahren Zustand hinweg. Der 48-Jährigen ist offensichtlich gesundheitlich angeschlagen. Im Dezember wurde er dann nur noch per Videokonferenz zugeschaltet. Seit April letzten Jahres sitzt Assange im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh im Südosten Londons eine 50-wöchige Haftstrafe ab, weil er mit der Flucht in die ecuadorianische Botschaft in der britischen Hauptstadt gegen Kautionsauflagen verstoßen hatte. Dort hatte er sich sieben Jahre lang verschanzt, um einer Auslieferung nach Schweden zu entgehen, wo er wegen Missbrauchs- und Vergewaltigungsvorwürfen befragt werden sollte. Der Australier aber fürchtete, dass er dann in die USA ausgewiesen würde, wo ihm Strafverfolgung droht. Das Ermittlungsverfahren in Schweden wurde mittlerweile eingestellt. Ob es zu einer Auslieferung in die USA kommt, wird dagegen in den nächsten Monaten entschieden.
Von Bewunderung bis zu Hass - der Australier polarisiert
Wie erklärt sich, dass die Sicht auf Assange derart zwischen Bewunderung und Hass changiert? Eine Enthüllung machte ihn und seine Plattform vor knapp zehn Jahren weltberühmt. Im April 2010 veröffentlichte Wikileaks ein Video, das um die Welt ging. Zu sehen ist eine verstörende Sequenz, gefilmt aus einem US-Kampfhubschrauber: Die Besatzung feuert in Bagdad gezielt auf Journalisten sowie auf einen kleinen Bus – bei der Attacke sterben zehn Menschen. Offiziell hatte das US-Militär behauptet, der Angriff hätte feindlichen Milizen gegolten. Das Video bewies jedoch: Das war eine glatte Lüge.
Es folgte eine wahre Flut von Veröffentlichungen, die Wikileaks zusammen mit dem Guardian, der New York Times und dem Spiegel Ende 2010 publizierte. Darunter geheime Kriegsberichte der US-Armee aus dem Irak, aus Afghanistan sowie rund 250.000 Depeschen des US-Außenministeriums. Längst nicht alles erwies sich als brisant. Doch es wurde nicht nur das Fehlverhalten von Soldaten offengelegt, sondern auch, dass die US-Regierung im Irak-Krieg Opferzahlen nach unten manipuliert hatte und so die Öffentlichkeit täuschte. Eine Blamage für Washington.
Gleichzeitig gibt es auch scharfe Kritik an dem 48-Jährigen
Gleichzeitig gab es auch scharfe Kritik an Assange. So hätte die ungefilterte und unbearbeitete Veröffentlichung des Materials auf Wikileaks Menschenleben in Gefahr gebracht. Auch seien die Ziele des Anti-Terror-Kampfes gefährdet und in krimineller Absicht Geheimnisverrat begangen worden. Es handele sich nicht um Journalismus oder Aufklärung, sondern schlicht um den Diebstahl von geheimen Daten.
Eine Schlüsselfigur in der aktuellen Auseinandersetzung spielt der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer. Der Schweizer Rechtswissenschaftler, der sich nach eigenem Bekunden zu Beginn nur widerwillig mit dem Fall Assange beschäftigte, gilt heute als dessen hartnäckigster Verteidiger. Die Vereinten Nationen haben jüngst allerdings darauf verwiesen, dass Melzer in diesem Fall nicht für die UN spreche.
Schwere Vorwürfe des UN-Experten Nils Melzer
Melzer, der des Schwedischen mächtig ist, behauptet, dass ihm bei der Akteneinsicht klar geworden sei, dass die schwedischen Behörden den Vorwurf der Vergewaltigung gegen Assange konstruiert haben. Neun Jahre lang habe er sich in einer „strafrechtlichen Voruntersuchung zu einer Vergewaltigung“ befunden, ohne dass es zu einer Anklage gekommen sei, kritisiert Melzer im Gespräch mit dem Schweizer Onlinemagazin Republik. Quintessenz: Melzer glaubt, dass Assange „den Preis dafür zahlt, dass er schwere Regierungsvergehen aufgedeckt hat, einschließlich mutmaßlicher Kriegsverbrechen und Korruption“.
Soweit gehen die 130 deutschen Politiker, Journalisten und Künstler in ihrem Appell längst nicht. Sie fordern die Bundesregierung aus humanitären Gründen auf, sich für die Haftentlassung von Julian Assange einzusetzen. Doch Berlin war in diesem Fall bisher streng bemüht, Neutralität zu wahren.