Vor gut 25 Jahren waren Sie als Bundesumweltminister bereits mit Klimawandel und Umweltverschmutzung befasst. Damals mussten Sie noch dafür sorgen, dass es überhaupt ein Problembewusstsein gibt. Das ist heute nicht mehr die Frage – denn wir stehen heute verschärft vor denselben Problemen. Es scheint vielen klar zu sein, dass etwas passieren muss. Aber was?
Klaus Töpfer: Damals war in Deutschland das Problembewusstsein sicherlich schwankend. Aber im Augenblick – und ich hoffe, dass das jetzt auf Dauer der Fall ist – gibt es eine sehr breite Unterstützung dafür, nicht nur darüber zu reden, sondern auch zu entscheiden, zu handeln. Wie nötig das ist, zeigt die CO2-Emissionskurve. Der deutsche CO2-Ausstoß ging zwar unmittelbar nach der Wende zurück, weil einige veraltete DDR-Braunkohlekraftwerke vom Netz genommen wurden – aber seitdem sind wir auf nahezu gleichbleibendem Niveau. Natürlich ist es gelungen, das wirtschaftliche Wachstum der vergangenen Jahre ohne weiteren Anstieg von CO2 zu realisieren – diese "Entkopplung" reicht aber bei weitem nicht. Die Emissionen müssen bis 2050 um mindestens 90 Prozent gesenkt werden! Massiv handeln ist das Gebot der Stunde. Bei der Stromerzeugung sind wir in Deutschland bereits sehr gut vorangekommen. Bereits jetzt wird über 40 Prozent des Stromes aus erneuerbaren Energien gewonnen. Die Kosten für Solar und Wind sind deutlich gesunken – technologischer Fortschritt und Massenproduktion haben dies ermöglicht. Ganz anders sieht es aus im Verkehr und in der Wärmeerzeugung. Diese Sektoren sind noch immer sehr weitgehend von Öl oder Gas abhängig. Darum ist es notwendig, die Erfahrung und die Fortschritte, die wir im Stromsektor gemacht haben, für eine wirksame Kopplung dieser Sektoren zu nutzen.
Und in Afrika? Sie waren acht Jahre in Nairobi bei den Vereinten Nationen für Umweltfragen verantwortlich. Dort wird die Bevölkerung weiter stark wachsen. Und wenn die zu ihrer Versorgung nötige Entwicklung dort stattfinden soll, auch damit sich die Menschen aus ihrer Not nicht auf den Weg zu uns machen, können wir schlecht sagen, sie müssen wegen des Weltklimas auf Technologien verzichten, auf denen in den vergangenen Jahren unser Wohlstand basiert hat, oder?
Töpfer: Ja, und das müssen wir in Deutschland noch mehr ins Bewusstsein rücken. Ein Beitrag dazu muss sein, dass wir die alternativen Energien immer ökonomischer, das heißt billiger und damit wettbewerbsfähiger anbieten können. In Afrika und anderen Entwicklungsländern zu raten: Verzichtet auf die "billigen" fossilen Energien, die ihr zum Beispiel in Afrika sehr reichlich im Boden habt – nehmt viel mehr die "teureren" erneuerbaren Energien, die wir entwickeln, um damit Klima zu schützen. Nur wenn die erneuerbaren Energien auch in diesen sonnenreichen Ländern besonders wettbewerbsfähig sind, wird der Hinweis ernst genommen: Nutzt die CO2-freien Energien, weil sie gerade euch in den Sonnenregionen wirtschaftlich wirklich weiterbringen. Gleichzeitig realisieren wir dadurch auch gemeinsam eine wirksame Politik gegen den Klimawandel, schützen unsere Zukunft. Das Klima wird von jeder Tonne CO2 in gleicher Weise verändert, ob sie nun in Afrika oder Europa emittiert wird.
Nicht wenige fordern, wir müssten uns von dem Gedanken des Wachstums verabschieden …
Töpfer: Wir sehen doch jährlich, wie wunderbar Wachstum ist, im Kreislauf der Natur. Jetzt wachsen die Pflanzen wieder, im Herbst wird geerntet, im Winter ruht die Natur aus. Danach setzt das Wachstum wieder ein – der Kreislauf ist geschlossen. Eine solche Kreislaufwirtschaft, die nicht die Substanz vermindert, sondern nutzt – diese ist erforderlich für eine Welt mit bald neun Milliarden Menschen. Nur ein solches nachhaltiges Wachstum ist eine Antwort auf das Wachstum der Weltbevölkerung. Als ich geboren wurde, lebten auf der Welt 2,6 Milliarden Menschen. Jetzt sind es 7,6 Milliarden und bald neun Milliarden Menschen. Sie alle wollen ein menschenwürdiges Leben führen, wollen mit gesunder Nahrung satt werden, brauchen sauberes Trinkwasser, wollen Lebensraum und Perspektiven für ihre Kinder. Alles das, was uns in den „hoch entwickelten Ländern“ eine Selbstverständlichkeit geworden ist, wird global angestrebt. Mit linearem Wachstum, mit der Abwälzung von Kosten dieses Wachstums auf die Zukunft ist dies nicht zu bewältigen. Die Wegwerfgesellschaft hat keine Zukunft, sie zerstört sich selbst.
Müssen wir unsere Auffassung von Wohlstand verändern?
Töpfer: Wir müssen das, was wir als Wohlstand ansehen, weiterentwickeln. Viele, nicht nur junge Menschen fragen sich heute: Muss ich ein Auto besitzen? Ist es nicht sinnvoller, ein Auto zu nutzen, wenn ich es brauche? Die Sharing Economy, eine gemeinsam nutzende Wirtschaft, ist eine bessere Perspektive für die Zukunft. Wir können nicht beliebig Ressourcen in Verpackungen binden und am Ende mit ihnen noch die Umwelt vermüllen. Wir können nicht mehr hinnehmen, dass die Artenvielfalt so zurückgeht, dass auch die Produktivität der Natur aufs Spiel gesetzt wird. Wir müssen Wohlstand so erreichen, dass die Substanz nicht infrage gestellt wird. Und vielleicht erkennen die Menschen ja auch, dass etwas mehr Ruhe und Konzentration auf die Dinge, die nicht materieller Natur sind, durchaus als Wohlstandsgewinn sehr bewusst wahrgenommen und in neue Lebensstile umgesetzt werden können.
Aber bleibt uns genug Zeit, umzusteuern? Werden uns nicht zuvor bereits die Folgen des bisherigen Wachstums überrollen?
Töpfer: Eigentlich tun sie das bereits. Unser Wachstum beruht heute vornehmlich auf der Beseitigung der negativen Folgen vorangegangenen Wachstums. Etwa wenn wir jetzt den Verbrennungsmotor im Auto durch Elektroautos oder andere Mobilitätsformen ersetzen. Wir müssen korrigieren, was wir vorher falsch gemacht haben. Das ist ja in aller Regel nicht bewusst und böswillig falsch gemacht worden. Die negativen Folgen sind nicht beachtet, nicht erkannt worden. Die Besorgnis ist ernst zu nehmen, dass wir dafür möglicherweise die Zeit nicht mehr haben – und zwar bei uns sowie weltweit. Als technologisch führendes Land müssen wir alles daran- setzen, dass wir diese mittel- und langfristigen Folgen frühzeitig erkennen und damit technologische Lösungen und Verhaltensänderungen miteinander verbinden. Wir sind dann eine in der Klimapolitik führende Nation, wenn wir bei uns die Lösungen entwickeln und so anwenden, dass andere in der Welt dies übernehmen können und Wohlstand für sich ermöglichen. Die drastischen Investitionen in die Entwicklung der Solarenergie, die von uns allen in den Strompreisen bezahlt wurden, haben diese Technologie weltweit wettbewerbsfähig gemacht – der wohl bedeutendste Beitrag Deutschlands für eine wirksame globale Klimapolitik.
Können die Probleme, die aus technischem Fortschritt entstanden sind, mit noch mehr davon gelöst werden? Etwa mit "Climate Engineering", dem Produzieren des Klimas, also noch tieferen Eingriffen in die Natur?
Töpfer: Bisher haben wir immer so auf erkannte Fehler reagiert: Die nicht beachteten Neben- und Auswirkungen von technologischen Veränderungen wurden mit neuen technologischen Veränderungen aufgefangen – wissend oder zumindest ahnend, dass diese technologischen Veränderungen ihrerseits wieder technologische Folgewirkungen haben werden. Es ist in der Tat eines der großen Besorgnisse, dass das in der Zukunft nicht mehr möglich ist: Die Erkenntnisse und Eingriffe in die Baustellen der Natur und des Lebens werden immer umfassender. Die Genstrukturen des Menschen und der Natur sind immer umfassender dekodiert: Die Wahrscheinlichkeit wächst damit, dass die damit möglichen Eingriffe unbeachtete Konsequenzen haben können, die nicht mehr durch technischen Fortschritt aufgefangen werden können. Ich bin Co-Vorsitzender des Nationalen Begleitgremiums für die Entsorgung hoch radioaktiver Abfallstoffe – da wird ganz konkret erfahrbar, welche Folgeprobleme der frühere technische Fortschritt ausgelöst hat. Bei den neuen technologischen Entwicklungen werden aller Erfahrung nach wieder Fehler oder unbeachtete Folgen erkannt werden. Darum sollten wir kleinteiliger voranschreiten, sollten flexible Änderungen beachten – um noch korrigieren und Fehler beseitigen zu können.
Klima ist ein globales Problem. Aus der globalen Verantwortung aber ziehen sich immer mehr Länder zurück …
Töpfer: Ja, und das ist außerordentlich besorgniserregend, dass wir in einer Zeit, in der wir mehr denn je grenzüberschreitende, multilaterale Zusammenarbeit brauchen, auf einmal wieder eine Tendenz zur Renationalisierung haben. Aber wir müssen alles daransetzen, dass wir die Zusammenarbeit in der Welt voranbringen. Kein noch so mächtiges Land der Welt kann alleine den Klimawandel lösen. Darum gibt es Abkommen wie das von Paris, nur muss es dann auch umgesetzt werden. Da hilft es natürlich wenig, wenn dann ein Land daherkommt und sagt, ich glaube nicht so recht daran, dass wir überhaupt einen Klimawandel haben …
Was ja auch einen Zweifel an der Wissenschaft ausdrückt und ihre Ergebnisse zur Glaubensfrage macht.
Töpfer: Es geht aber nicht um Glauben. Es geht um rationale Kriterien, an die wissenschaftliche Forschung nachvollziehbar gebunden ist. Dies gilt national ebenso wie international. Keineswegs bin ich überrascht darüber, dass die gesellschaftliche Diskussion über die Ergebnisse von Forschung immer kritisch, immer kontrovers ist. Nur: Wenn die Wahrscheinlichkeiten so groß sind, dass sie nicht mehr übersehen werden können, wäre Nicht-Handeln und das Warten auf die Überzeugung der letzten Zweifler unverantwortlich. Ein rationales Vorsorgeprinzip ist zwingend geboten.
Aber dieses Handeln-Müssen bereitet ja gerade auch der Politik Probleme.
Töpfer: Ja, denn wir sehen, dass wir uns immer weniger Zeit nehmen können für Entscheidungen, deren Wirkung wir nicht oder nicht hinreichend lange kennen. Und dadurch dass wir Kohle, Minerale und Gas genutzt haben und noch nutzen, sind wir nicht mehr entscheidungsfrei, sondern wir müssen etwas tun, jetzt. Das wächst also heraus aus der Erörterung von Lösungsmöglichkeiten. Die große Besorgnis ist, dass wir damit ein Grundprinzip von parlamentarischer Demokratie immer stärker infrage stellen: dass es Alternativen geben muss. Aber wie der Wissenschaftler Paul Crutzen sagt, müssen diese Lösungen von Wissenschaftlern und Ingenieuren gebracht werden. Wir müssen also nicht nur neue Techniken haben, sondern auch sehen, dass diese von den Menschen mitgetragen werden. Das hat weitreichende Konsequenzen für die Gestaltung einer demokratischen Gesellschaft in der Zukunft.