Sie ist wieder da. „Ich freue mich, hier in Dresden zu sein“, sagt Margot Käßmann, lacht spitzbübisch und blinzelt in die proppenvolle Eisarena. 6500 Menschen hängen an ihren Lippen. Die Seligpreisungen, „einer der schönsten Texte der Bibel“, ist ihr Thema. Hunderte Teilnehmer des Evangelischen Kirchentags haben es nicht geschafft, in die Halle zu kommen, obwohl auch sie eine Stunde zuvor schon da waren. Sie lagern im grünen Gras rings um das Stadion und lauschen der Lautsprecherübertragung.
Hier in Dresden ist die ehemalige Hannoveraner Landesbischöfin über Nacht berühmt geworden. „Nichts ist gut!“, hatte sie in der Frauenkirche den Menschen in ihrer Neujahrspredigt 2010 zugerufen – nicht die kommende Klimakatastrophe, nicht die Kinderarmut in Deutschland und nicht der Bundeswehreinsatz in Afghanistan. Da war sie die furchtlose Prophetin, die im Namen Gottes der sündigen Welt die Leviten liest. Die Rolle gefällt ihr immer noch, auch wenn ihr eine peinliche Alkoholfahrt ihr Spitzenamt in der Evangelischen Kirche Deutschlands gekostet hat. Mehr Mut zu Farbe hat sie jetzt, trägt zum schwarzen Rock einen violetten Blazer und eine Bluse mit lila Muster und ihre Haare machen das schmale Gesicht ein bisschen fülliger.
Margot Käßmann streut mit ihrer Bibelarbeit zur Bergpredigt Salz in die Wunden dieser Welt. Die Armen, das sind die 925 Millionen Hungernden und die 6027 Kinder, die täglich daran sterben. Aber, sagt Käßmann, die jetzige Professorin für Theologie, die gestern ihren 53. Geburtstag feierte, lieber regen sich die Deutschen über die paar Toten durch das Ehec-Virus auf.
Käßmann erforscht die Gewissen: Ist es gerecht, dass die Hälfte der Menschheit mit weniger als einem Dollar täglich überleben muss, während eine deutsche Kuh von der EU mit zwei Euro am Tag subventioniert wird? Gestenreich nimmt die Bibelarbeiterin türkische Familien gegen „populistische Pamphlete“ in Schutz, sie beklagt die Ausbeutung der Barmherzigen in der Pflege und beweist ihr reines Herz mit dem Bekenntnis, mit den Taliban bei Kerzenlicht zu beten sei „die wesentlich bessere Idee“als die Bombardierung von Tanklastwagen in Kunduz. Kein Zweifel, Margot Käßmann ist die inoffizielle Präsidentin des Kirchentags, eine protestantische Popkönigin. Applaus ist ihr sicher.
„Sie ist sehr charismatisch und überzeugender als im Fernsehen“
Direkt den „lieben Herrn Bundespräsidenten“ kann sie in der Eisarena zur Rede stellen, ob es wirklich in Ordnung ist, dass Deutschland als drittgrößter Waffenlieferant der Welt vom Krieg profitiert. „Die Kirchen können angesichts dieser furchtbaren Situation nicht schweigen!“, ruft sie leidenschaftlich. Kirchentage seien der Ort, um dem Herzen mehr zu folgen, statt sich vermeintlichen Unabänderlichkeiten zu fügen. „Sie ist sehr charismatisch. So wie ich Frau Käßmann hier erlebe, wirkt sie noch überzeugender als im Fernsehen“, schwärmt Astrid Schabada aus Eschwege.
Der Käßmann-Faktor verschafft selbst anstrengenden wehrpolitischen Debatten Gepränge und Gedränge. Die ehemalige Fabrikhalle weit draußen in der Vorstadt ist trotz des schwülen Nachmittags überfüllt. „Ich bin nicht die Expertin“, kokettiert die Theologin. Gleichwohl hat Käßmann eine klare Meinung übers Militärische. Eine Intervention wie in Afghanistan „ist mit unseren Grundsätzen nicht vereinbar“, doziert sie und beschwört den langen Weg der Verständigung, wie ihn Deutschland mit seinen ehemaligen Feinden Frankreich und Polen gegangen ist. „Ohne Gespräche mit den Taliban wird kein Frieden nach Afghanistan kommen.“
Ob sie naiv sei? „Jesus selbst ist naiv gewesen“, entgegnet sie auf Vorbehalte. Und noch beim Nachtgebet unter freiem Himmel auf dem Dresdener Altmarkt preist sie vor 17000 Menschen die Friedfertigen selig und lobt die „alten Europäer“, die lieber „Keine Gewalt!“ rufen als Krieg führen. Selbstironisch tröstet die perfekte Pfarrerin die Massen, die bewegten Herzens vor geschlossener Halle standen: „Ihr müsst nicht alle zur Käßmann gehen...“