Der Messias des Brexit läuft zu Rockmusik in die Halle ein. Beifall und Jubel sind so laut, dass die Gitarrenklänge darin untergehen. Die Menge streckt kamerafreundlich Plakate hoch, auf denen „Change Politics for Good“ (Lasst uns die Politik für immer verändern) prangt. Dann, auf der Bühne, breitet Nigel Farage die Arme aus. Wie zur Segnung seiner Jünger.
Er ist wiederauferstanden. Nichts anderes soll das heißen an diesem Abend im ostenglischen Peterborough. Und so strahlen rund 1800 Menschen beseelt, haben sich die zwei Pfund 50 Eintritt und das lange Warten vor dem Kongresszentrum doch gelohnt.
Nigel Farage tritt derzeit beinahe täglich in der Provinz auf, der lauteste Schreihals aller Brexit-Schreihälse, Schreckgespenst der konservativen Partei und Hassfigur aller Europafreunde. Früher galt er auch als Oberbiertrinker der Nation, gerne fotografiert mit Pint in der Hand im Pub, dieser englischsten aller englischen Institutionen. Nun trinke er nicht mehr, erzählt Farage jedem, der es hören und nicht hören will. Doch hängen bleiben soll, dass er sein Image geändert hat. Nicht mehr Clown und Kumpel möchte er sein, auch nicht Gesicht der rechtspopulistischen Unabhängigkeitspartei Ukip, die mit Anti-Einwanderungsrhetorik viele abschreckt.
Vielmehr will er als seriöser Politiker der von ihm neu gegründeten Brexit Party auftreten. Der es aber, da bleibt er sich treu, noch immer denen da oben zeigen will.
Die da oben sind die Karriere-Politiker, die angeblich „Verrat“ begehen, weil sie den Brexit noch nicht geliefert haben. Farages Comeback transportiert eine einzige Botschaft: Raus aus der EU, und zwar sofort.
Geschenkt, dass der 55-Jährige selbst Teil des Establishments ist, immerhin seit 20 Jahren Abgeordneter im Europaparlament, ehemaliger Broker, nettes Haus in London, solche Dinge. „No more Mr Nice Guy“, droht Farage dem Parlament im fernen Westminster und zuvorderst Premierministerin Theresa May. Wann immer er ihren Namen ausspricht, buht die Halle; die konservative Regierungschefin ist das gemeinsame Feindbild und Zielscheibe der giftigen Wortpfeile.
Die Brexit Party könnte einen haushohen Sieg einfahren
Umfragen zufolge werden die Tories bei den Europawahlen eine historische Schlappe erleben und die Brexit Party dagegen mit mehr als 30 Prozent einen überwältigenden Sieg feiern. „Es geht nicht um links oder rechts, dafür um richtig statt falsch“, ruft Nigel Farage gerne und vergisst zu erwähnen, wie denn das politische Programm jenseits des Brexit aussehen könnte. Statt Substanz liefert er Emotionen. Denn es herrscht Wut, Frustration, Ärger unter den Versammelten; viele ehemalige konservative Wähler, Unternehmer und Rentner, einige Ex-Labour-Anhänger sind ebenfalls darunter. Sie alle bevorzugen einen ungeregelten Brexit ohne Deal.
Es geht ja nichts voran in diesem absurden Schauspiel. Nun muss Theresa May den nächsten Rückschlag hinnehmen. Labour-Chef Jeremy Corbyn bricht die wochenlangen Brexit-Gespräche mit der Regierung ab und erklärt sie für gescheitert. In Westminster-Kreisen hat man das schon erwartet. „Wir waren nicht in der Lage, gewichtige politische Differenzen zu überbrücken“, schreibt Corbyn an May. Ihre Hoffnung, dass sie den EU-Deal Anfang Juni vom Unterhaus gebilligt bekommt, um so zu verhindern, dass britische Europa-Abgeordnete am 2. Juli ihr Mandat antreten, dürfte nun dahin sein.
In Peterborough sagt Graham Garrett: „Der Gewinner bestimmt, das ist Demokratie.“ Der 65-Jährige, bislang treuer Anhänger der Tories, ist mit seiner Frau aus Kingsley in Norfolk angereist und hofft jetzt darauf, dass mehr Europa-Abgeordnete der Brexit Party auf den Kontinent entsandt werden, „um Ärger in Europa anzuzetteln“.
Garrett ist jemand, der immer nur England sagt, wenn er vom Vereinigten Königreich spricht. Zum Beispiel, als er erklärt, warum die Sache mit der EU-Mitgliedschaft niemals gut enden konnte: „England folgt den Regeln, wir stehen etwa Schlange. Frankreich dagegen ignoriert die Regeln. Die Deutschen machen ihre eigenen. Spanien interessiert sich nicht für sie und die Griechen wollen nur mehr Geld.“
Seine Frau, sie stammt aus Nordirland, nickt eifrig. Dass dort wieder geschossen und getötet wird, blendet das Paar auf bemerkenswerte Weise aus. Beide haben sich Farages Bewegung angeschlossen, wie mehr als 100.000 andere Menschen in den vergangenen Wochen. Die Plakate für das Wohnzimmerfenster, die später verteilt werden, gehen weg wie Freibier im Fußballstadion.
Eigentlich hätten die Europawahlen im Königreich nie stattfinden sollen, nachdem sich das Land Ende März aus der Staatengemeinschaft verabschieden wollte. Nun müssen die Briten doch zur Urne – traditionell am Donnerstag, drei Tage vor den Deutschen. Ein Umstand, dem etwas zutiefst Absurdes anhaftet – und als Symbol gilt für das Komplettversagen der britischen Politik, sich auf ein Austrittsabkommen zu einigen. Zwei Mal wurde deshalb der Scheidungstermin verschoben. Derzeit ist es der 31. Oktober. Angesichts der Konflikte in Westminster streicht man sich den Tag besser nur mit Bleistift im Kalender an.
Die Konservativen sind wie gelähmt
„Die Europawahl ist eine großartige Möglichkeit für kleine Parteien, einen Fuß in die Tür zu bekommen, sozusagen eine Startrampe in die Innenpolitik“, sagt Sara Hobolt, Politikwissenschaftlerin an der London School of Economics and Political Science (LSE). Und Farage habe es clever angestellt, sich von der extremen Rechten zu distanzieren und stattdessen mit einer klaren Botschaft anzutreten: Gebt uns endlich unseren Brexit. „Die Tories dagegen sind intern gespalten und senden längst nicht mehr dieses Signal.“ Vielleicht verharren die Konservativen deshalb wie gelähmt in Westminster – ohne Anstrengungen, den Wahlkampf zu bestreiten.
Zweifellos darf man Peterborough als sehr britisch bezeichnen. Ein beschauliches Städtchen, hübsch anzusehen an manchen Ecken, sehr grau an anderen, eine imposante Kathedrale aus dem Mittelalter mittendrin. Das ist die eine Seite. Auf der anderen erhielt Peterborough nach dem EU-Referendum den Spitznamen Brexit Central verpasst, weil hier 60 Prozent der Menschen für den Ausstieg aus der EU gestimmt haben. Hier konnte alles im Kleinen erzählt werden, was im Großen schief lief und was viele Briten zum Brexit-Votum verführte.
Es herrschten eine chronische Immobilienkrise und ein Mangel an Schulplätzen, der Druck auf das Gesundheitswesen stieg unaufhaltsam und die Bevölkerung wuchs auch wegen der vielen umliegenden Erdbeer-, Tomaten- und Spargelfelder in nur fünf Jahren um 11.000 auf 196.000; vor allem osteuropäische Zuwanderer kamen wegen der Jobs.
Heute steht Peterborough abermals exemplarisch für das ganze Land. Für das Dilemma, in dem es steckt. Hier die EU-Freunde, dort die Brexiteers, dazwischen nicht viel – und einig sind sie sich vor allem auf der Anti-EU-Seite. Die Pro-Europäer präsentieren sich dagegen zersplittert. Ratlos. Planlos?
Die Geschichte in Peterborough geht so: Ein Jahr nach dem Referendum 2016 wurde der europaskeptische Abgeordnete der Konservativen abgewählt und durch eine EU-freundliche Parlamentarierin der Labour-Partei ersetzt. Weil sie sich durch Meineid strafbar machte, setzten die Bürger sie kürzlich per Volksbegehren ab, zwei Wochen nach der Europawahl soll ein Nachfolger bestimmt werden.
Eigentlich wollten die vier kleinen proeuropäischen Parteien einen Kandidaten ins Rennen schicken, um eine Chance auf einen Sitz in Westminster zu haben. Doch der Versuch scheiterte – manche würden nachschieben: kläglich. Die Liberaldemokraten und die Grünen stellen nun jeweils einen Kandidaten, die neu gegründete Partei Change UK unterstützt jenen der Gruppierung „Renew“. Ein Hin und Her und wieder zurück.
In derselben Woche, in der die Pro-Europäer mit peinlichen Nachrichten aus Peterborough Schlagzeilen machten, trat Nigel Farage mit seinen Aufheizern am Stadtrand auf und fing die EU-Skeptiker und Unentschlossenen ein. Die Brexit Party darf hoffen, dass ihr Kandidat mit dem Schwung eines Erfolgs aus den Europawahlen ins Unterhaus zieht.
Geschickt füllt Farage im ganzen Land das Vakuum, das die andere Seite hinterlässt. „Wenn die Pro-Brexit-Parteien gut abschneiden, würde die Triebkraft hinter einem zweiten Referendum an Dampf verlieren“, sagt Politologin Sara Hobolt. Zudem würde Westminster das Ergebnis im Sinne der Brexiteers interpretieren.
Die Nation eint derzeit nur eines: der Groll auf Theresa May
Der schlimmste Albtraum für Nigel Farage, wie sie sich selbst nennt, hat braune Locken und verteilt an diesem Vormittag Flyer in der Fußgängerzone des südenglischen Städtchens Southampton. Suzana Carp ist nicht nur Rumänin, sondern auch Kandidatin für die neue Partei „Change UK“, die ehemalige Labour- und Tory-Abgeordnete aus Frustration formiert haben. Die Gruppierung fordert eine erneute Volksabstimmung und den Verbleib in der Staatengemeinschaft.
„Die Zeit für Ideologien ist vorüber, deshalb wollen wir das System ändern“, sagt die 31-jährige Carp, die in Oxford lebt und für eine Denkfabrik arbeitet. Nur, Change UK hangelt sich von Fehler zu Fehler. Mehrere Namenswechsel, mangelnde Absprachen, abspringende Kandidaten, ein kaum einprägsames Logo. Unten am Hafen von Southampton, wo einst die Titanic zur ersten und letzten Fahrt aufbrach, lockt ein Kreuzfahrtschiff unter maltesischer Flagge Schaulustige an. Es soll schon bald zur Europa-Reise starten – Sizilien, Valletta, griechische Inseln, Capri. Unweit des Dampfers legen die Fähren nach Frankreich ab, auf den Kontinent, der so nah auf der anderen Seite des Ärmelkanals beginnt und manchmal für Großbritannien doch so fremd und unerreichbar wie ein anderer Planet zu wirken scheint.
Ins europäische Parlament will auch Phil Murphy, 60, ein weiterer Kandidat für Change UK. Im schwarzen Nadelstreifenanzug und mit polierten Lacklederschuhen versucht er in der Fußgängerzone, einen Briten von den verheerenden Auswirkungen des Brexit zu überzeugen. Murphy ist, was man einen klassischen Labour-Mann nennt. Mehr als 30 Jahre war er Mitglied bei den Sozialdemokraten, hat als Berater für Tony Blair gearbeitet, war während der Hoch-Zeiten von Labour in der Downing Street tätig.
Vor sechs Wochen wechselte er zu Change UK. Das Wirtschaftsprogramm von Jeremy Corbyn sei ein Desaster, die unklare Haltung beim Thema Brexit nicht hinnehmbar, schimpft er. Seit Monaten windet sich Labour, will die Brexit-Wähler halten und die EU-Freunde nicht vergraulen. „Wir dagegen sind ein neues Gebräu mit einem anderen Ansatz, Politik zu machen.“
Und die Regierungschefin? „Sie ist bei weitem die schlechteste seit Menschengedenken.“ Der Groll auf Theresa May ist dieser Tage das einzige, bei dem sich die Nation einig ist – ganz gleich, ob Pro-Europäer oder Brexit-Anhänger.
Bald will May zurücktreten.
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