Wer den Puls der polnischen Regierungspartei PiS fühlen möchte, ist bei den Klubs der Gazeta Polska an der richtigen Adresse. In den Diskussionszirkeln organisiert sich die Leserschaft der erzkonservativen Zeitung. In diesen Kreisen gelangte vor Jahren die Idee zum Durchbruch, in Polen „LGBT-freie Zonen“ einzurichten. Dutzende Regionalparlamente erklärten daraufhin die angebliche „Ideologie“ von Homo- und Transsexuellen für unerwünscht.
Die PiS stellte das Thema ins Zentrum mehrerer Wahlkämpfe. Es hat deshalb etwas zu bedeuten, wenn engagierte Klubmitglieder in diesem Sommer 2021 vor dem Verfassungstribunal in Warschau aufmarschieren und skandieren: „Hier ist Polen, nicht Brüssel.“ Das Tribunal müsse sich den Angriffen der EU auf die Souveränität Polens widersetzen.
„Heute lautet die Frage, ob wir unsere Freiheit für Geld verkaufen“, sagt Klub-Organisator Adam Borowski. Tatsächlich hat PiS-Premier Mateusz Morawiecki zuletzt ein Einlenken im Streit mit der EU-Kommission um die Rechtsstaatlichkeit angedeutet. Brüssel hatte zuvor gedroht, beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) eine hohe Geldstrafe gegen Polen zu beantragen, samt Ultimatum bis zum 16. August. Nun sagt Morawiecki, er sei selbst nicht zufrieden mit den Ergebnissen der Justizreformen. Am Freitag setzte die Präsidentin des Obersten Gerichts, Malgorzata Manowska, die Tätigkeit der umstrittenen Disziplinarkammer für Richter und Staatsanwälte bis auf Weiteres aus. Gut möglich, dass das erst einmal reicht, um in neue Gespräche mit der EU-Kommission eintreten zu können und das Ultimatum vom Tisch zu bekommen.
Polen vertagt Grundsatzentscheidung über EU-Recht erneut
Das Verfassungstribunal, das nach dem PiS-Wahlsieg 2015 mit parteinahen Gefolgsleuten besetzt wurde, hat nun schon zum zweiten Mal eine Grundsatzentscheidung darüber vertagt, ob in Polen europäisches oder nationales Recht Vorrang hat. Ob also der EuGH das Land wegen seiner umstrittenen Justizpolitik überhaupt abstrafen darf. Von dem Urteil versprechen sich die rechten Hardliner einen Befreiungsschlag. Doch der kommt nicht. Am 15. Juli war die Entscheidung erwartet worden, dann am 3. August. Nun soll sie am 31. August fallen. Weitere Verzögerungen sind aber nicht ausgeschlossen.
Seit Wochen zögern die „Hüter der europäischen Verträge“ in Brüssel ihre Zustimmung zum polnischen Corona-Wiederaufbauplan heraus. Und dabei geht es noch einmal um sehr viel mehr Geld als bei möglichen EuGH-Strafen. Zur Erinnerung: Die Entscheidung über Corona-Hilfen war nach zähen Verhandlungen 2020 bei einem als historisch gefeierten EU-Gipfel gefallen. Gemeinsame Schuldenaufnahme, lautete das Zauberwort. Fast 700 Milliarden Euro wurden damals ins Schaufenster gestellt, von denen alle Mitgliedsstaaten profitieren sollten. Wichtigste Bedingung: Die Regierungen sollten der Brüsseler Kommission detaillierte Pläne vorlegen, wofür sie das Geld ausgeben wollen. Den Polen-Plan aber, der 36 Milliarden Euro an Beihilfen und Krediten umfasst und seit dem Frühjahr in Brüssel vorliegt, hat die Kommission noch nicht akzeptiert.
Eigentlich sollte die Zustimmung noch vor der Sommerpause erfolgen. Stichtag war der 1. August, der aber ebenso verstrich wie der 3. August als Termin für das Urteil des Warschauer Verfassungstribunals. Ein Zusammenhang drängt sich auf. Offiziell heißt es in Brüssel zwar, alles gehe beim Polen-Plan seinen korrekten Gang. Das brauche nun einmal Zeit. Aber EU-Parlamentarier und nationale Regierungspolitiker wie der niederländische Justizminister Sander Dekkers mahnen offen weitere Prüfungen in Sachen Rechtsstaatlichkeit an. „Da fließt eine Menge Geld“, sagt Dekkers. Das könne nur ausgezahlt werden, wenn es Vertrauen gebe.
Justizkommissar sieht "Bedrohung für Architektur der EU"
Und das gilt erst recht, wenn die Anerkennung von EuGH-Urteilen nicht gesichert ist. Denn die EU-Kommission streitet nicht nur seit Jahren mit Warschau über die Justizpolitik. Inzwischen geht es auch um „eine reale Bedrohung für die gesamte Architektur der EU“, wie es der Brüsseler Justizkommissar Didier Reynders formuliert. Denn die EU, so definiert es die Bundesregierung auf ihrer Website, ist „viel mehr als nur eine internationale Organisation. Sie ist eine Rechtsgemeinschaft: Die Mitgliedstaaten haben einen Teil ihrer nationalen Souveränität an die EU abgetreten. Die Organe der EU nehmen ihre Aufgaben im Rahmen eines klar festgelegten rechtlichen Gefüges wahr.“
Allerdings hat ausgerechnet das Bundesverfassungsgericht mit seinem berühmt gewordenen EZB-Urteil im Mai 2020 seinerseits die Entscheidungsbefugnisse des EuGHs in Frage gestellt. Die EU-Kommission wiederum hat wegen des EZB-Urteils ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet. Der Ausgang dieses Kräftemessens könnte über die Zukunft der EU entscheiden.