Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Europäische Union: Ja, die EU ist kompliziert - und trotzdem besser als alles davor

Europäische Union

Ja, die EU ist kompliziert - und trotzdem besser als alles davor

    • |
    Der Vorhang fällt: Nach 17 Jahren verlässt unser Korrespondent Detlef Drewes Brüssel.
    Der Vorhang fällt: Nach 17 Jahren verlässt unser Korrespondent Detlef Drewes Brüssel. Foto: Boris Roessler, dpa

    Brüssel gibt es nicht. Das war die erste Erkenntnis an diesem Septembermorgen vor 17 Jahren. Mein zugegeben etwas veraltetes Navigationssystem wollte die gesuchte Adresse in Bruxelles auf Französisch nicht akzeptieren – bis ich auf die Idee kam, es mit Brussel auf Flämisch zu versuchen. Da war sie. Und mit ihr die erste Lektion als frischgebackener Auslandskorrespondent in

    Das ewige Gewusel von Diplomaten, Abgeordneten und hochrangigen Gästen, alle mit den sogenannten Badges behängt, die ihnen Zutritt zu den Zentralen der europäischen Macht verschafften, elektrisierte. Ein gutes Jahr vor meiner Ankunft hatte sich die Union um zehn Staaten nach Osten und Süden erweitert.

    Bei einer ersten Reise mit konservativen Europaabgeordneten nach Litauen besichtigte unsere Gruppe das dortige Schloss. Eine Stadtführerin schilderte, wie an dieser Stelle die damalige Führung dieses kleinen Landes die sowjetische Besatzungsmacht rausgeworfen hatte. Da meldete sich ein eher unscheinbarer Abgeordneter zu Wort und korrigierte lächelnd: „Das war nicht ganz so.“ Woher er das denn wisse, wurde er gefragt. „Ich war dabei“, antwortet er leise. Vor uns stand Vytautas Landsbergis, Europaabgeordneter und erster Staatspräsident Litauens, der Mann, der Moskaus Armee aus dem Land wies.

    Europa besteht nicht aus Paragrafen, sondern aus den Menschen, die es gestalten

    Es war eine weitere Lektion: Europa besteht aus Menschen, die diesen Kontinent gestaltet haben – und es weiter tun. Wie jede Regierungsmetropole hat auch Brüssel seine Blase, die die 33.000 EU-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter umhüllt. Zu der auch die Vertreter von rund 18.000 Lobbyisten gehören. Eine strikte Transparenzregel trennt die beiden Lager, die sich dennoch am Abend in den Restaurants und Cafés rund um den Place Luxembourg treffen.

    Gastronomie, Hotels – sie leben von der europäischen Politik, von Hintergrund-Treffen und Gesprächen zwischen Medien und Abgeordneten sowie Kommissionsbeamten. Viele der Brasserien und Lokale sind dermaßen abhängig von der Blase, dass sie am Wochenende, wenn in diesem europäischen Viertel gähnende Leere herrscht, geschlossen haben.

    Nur am Place Jourdan, ein paar Straßen vom EU-Parlament und dem gewaltigen Berlaymont, dem Hauptsitz der Kommission entfernt, hat das „Maison Antoine“ täglich geöffnet, die wichtigste Fritten-Bude der Hauptstadtregion. Ach was: ein Gourmet-Tempel der Kartoffel-Stäbchen, die angeblich nur dann echt sind, wenn sie handgeschnitzt wurden (was genau genommen nur noch eine schöne Legende für Touristen ist).

    An die berühmteste Fritten-Bude flüchtete sich auch mal Angela Merkel

    Hierhin flüchteten sich auch schon mal Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, wenn es beim EU-Gipfel eine Atempause gab. Die Anekdoten rund um diese wichtigsten EU-Treffen sind abendfüllend. So verließ der frühere dänische Ministerpräsident und spätere Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen mal einen EU-Gipfel und ging im nahe gelegenen Parc du Cinquantenaire joggen.

    Solche Exkurse waren natürlich nur möglich, wenn die Beratungen mal ins Leere liefen, Augenblicke, die der frühere Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mit den Worten beschrieb: „Es ist alles gesagt, aber noch nicht von jedem.“ Für Korrespondenten bedeuteten solche Gipfel stundenlanges Warten, oft bis zum frühen Morgen. Während im Pressezentrum Karten oder „Wer wird Millionär“-Online gespielt wurde, rangen hinter verschlossenen Türen die Regierungschefs um Auswege aus den diversen Krisen. Staatsschulden, Griechenland, Flüchtlinge, Coronavirus, Aufbaufonds – „Drei-Hemden-Gipfel“ heißen solche Begegnungen im Brüsseler Jargon. Man reist mit mehreren Anzügen und Oberhemden an, woran man immer noch erkennen kann, dass die Gipfel lange Jahre eher Männertreffen waren.

    Detlef Drewes
    Detlef Drewes
    Detlef Drewes
    Detlef Drewes

    Das Zentrum Europas, das ich nun in Richtung Heimat verlasse, ist ein anderes geworden. Krisen sind keine Einzelfälle mehr, sondern ein Dauerzustand. Ein europäischer Kompromiss gilt nicht mehr als Errungenschaft, sondern wird nach nationalen Kategorien in Gewinn oder Niederlage eingeordnet. Der Binnenmarkt mit seinem kontinuierlichen Drang zur Harmonisierung, häufig von Interessenverbänden und , wird immer öfter zum Hemmschuh, weil er eine Bürokratie generiert, die längst uferlos geworden ist.

    Die Zahl der ungelösten Probleme ist heute größer als damals

    „Wir müssen nicht jede Schraube europäisch regulieren“ – das ist ein Satz, der der Bundeskanzlerin zugeschrieben wird. Sie hatte recht. Die Europäische Union erstickt im Kleinen, ohne im Großen durchschlagskräftig genug zu sein. Im Rückblick bin ich mir nicht sicher, ob die Zahl der ungelösten Probleme bei meinem Start in Brüssel größer war oder nicht doch an diesem Tag, an dem ich gehe.

    Das ist die Rolle der EU-Kommission

    Die Europäische Kommission ist die wichtigste Behörde der EU. Sie kontrolliert die Einhaltung der europäischen Rechtsvorschriften durch die 28 Mitgliedstaaten und kann deren Anwendung einklagen. Sie macht die Gesetzesvorschläge für das Europaparlament und den Ministerrat, in dem die nationalen Regierungen vertreten sind.

    Der Präsident der EU-Kommission – derzeit noch der Luxemburger Jean-Claude Juncker – legt Ziele und Prioritäten der Arbeit fest. Damit übt er erheblichen Einfluss auf die Politik in der Europäischen Union aus.

    Die Arbeit der Kommission ist in verschiedene Ressorts aufgeteilt. Jede EU-Regierung stellt einen Kommissar, doch der Kommissar darf im Amt keine nationalen Interessen vertreten. Über die Aufgabenverteilung entscheidet der Kommissionspräsident. Danach muss das Europaparlament nach einer Anhörung der Ernennung zustimmen. In der EU-Kommission arbeiten einschließlich zeitweilig Beschäftigter rund 33.000 Menschen. Das sind ungefähr halb so viele Beamte, wie beispielsweise das Land Berlin beschäftigt.

    Hinzugekommen ist die Erosion von innen, der Verlust zentraler Werte wie Minderheitenschutz, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie in einigen Mitgliedstaaten. Wie oft haben wir Beobachter in der mittäglichen Pressekonferenz der Europäischen Kommission gehört, dass die Behörde wieder einen Drohbrief nach Warschau oder Budapest geschickt hat – aber nichts bewirkte? Es waren über 100 Schreiben.

    Europa wird ineffizient, braucht für Lösungen zu lange und bleibt dann noch auf halbem Weg stecken, weil es von den Hauptstädten blockiert wird. Das Chaos um die Bestellung von Impfstoffen in der Pandemie zeigte dies. Guter Wille reicht nicht, wenn er immer nur auf Bedenken trifft.

    Auf einem Friedhof wurde ich von der europäischen Idee ergriffen

    Es war ein dunkler, verhangener Tag Anfang 2018, an dem mir Europa auf einem Friedhof mit einer Wucht begegnete, die mich zutiefst berührte. Für einen lange geplanten Text über den 100. Jahrestag zum Ende des Ersten Weltkrieges besuchte ich Flanders Field, eine Region mit den größten Soldatenfriedhöfen in Belgien. Ich kam mit einer Familie ins Gespräch. Sie Britin, er Deutscher. Auf einer Fahrt zu den Gräbern der Weltkriege hatten sich die beiden als junge Leute kennen- und lieben gelernt.

    Irgendwann stellten sie fest, dass ihre beiden Großväter in Belgien begraben sind – beide hatten gegeneinander an der Front gekämpft. Seither kamen die beiden jedes Jahr mit ihren Kindern hierher, um zu gedenken und zu erinnern. „Wer an Europa zweifelt, sollte öfters Soldatenfriedhöfe besuchen“, hat Jean-Claude Juncker gesagt. An diesem Tag habe ich den Satz nicht nur verstanden, sondern wurde von ihm ergriffen.

    Ja, die Europäische Union ist manchmal ein Ärgernis und oft ein reichlich chaotischer Versuch, 27 Mitgliedstaaten unter einen Hut zu bringen, weil jeder (Deutschland eingeschlossen) allein in einer globalisierten Welt untergehen würde. Aber selbst eine unvollkommene Union ist besser als alles, was davor war. Der frühere Präsident des Europäischen Parlamentes, Martin Schulz, hat das einmal so ausgedrückt: „Wenn es die EU nicht gäbe, müsste man sie erfinden.“ Dem habe ich auch nach 17 Jahren in Brüssel nichts hinzuzufügen.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden