Sein Wort ist Gesetz, sagt einer seiner engsten Mitarbeiter. Wenn das so ist, dann dürften die Folgen dessen klar sein, was Recep Tayyip Erdogan vor ein paar Tagen im Präsidentenpalast jungen Frauen aus 50 muslimischen Staaten mit auf den Weg gegeben hat. Als er nämlich verkündete: „Was sagen mein Gott und unser Prophet? Der Befehl ist klar und deutlich. Vermählt euch, heiratet und vermehrt euch.“ Denn es sei „Pflicht eines Muslims, sich zu vermehren“.
Nun klingen solche Worte aus dem Mund eines Staatsoberhaupts für mitteleuropäische Ohren, vorsichtig ausgedrückt, schon sehr ungewöhnlich. Aus türkischer Perspektive wiederum nicht. Solche Äußerungen gewinnen zusätzlich an Bedeutung, wenn man berücksichtigt, welcher Personenkult um diesen Mann mittlerweile blüht. Ein Kult, der – wohlgemerkt aus Sicht seiner Anhänger – weit über den Respekt für die Leistungen des Politikers Erdogan und für das höchste Staatsamt hinausgeht. Besonders treue Fans feiern sogar seine optische Erscheinung – und eifern ihm entsprechend nach, wie noch zu dokumentieren sein wird.
Längst wird Erdogan von seinen Gefolgsleuten nicht mehr Präsident genannt, sondern „Reis“ – Anführer. Der 63-Jährige ist der mächtigste türkische Politiker seit Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, der sich vor fast hundert Jahren wie Erdogan heute als Landesvater und oberster Richter über Gut und Böse verehren ließ. Unzählige Gebäude, Straßen und Einrichtungen im ganzen Land sind nach Atatürk benannt. Unter anderem trägt der Istanbuler Flughafen den Namen des Gründervaters. Jetzt hat ein Minister schon mal angekündigt, dass der geplante neue Großflughafen, mit einer angestrebten Kapazität von 150 Millionen Reisenden im Jahr als größter Airport der Welt angelegt, nach Erdogan benannt werden soll.
Wie das Beispiel Atatürk zeigt, gibt es in der Türkei eine gewisse Tradition in der Verehrung des Mannes an der Spitze des Staates. Atatürks Stellvertreter und späterer Nachfolger Ismet Inönü war in seinem fast 90-jährigen Leben ein begnadeter Offizier und diente in der türkischen Republik nach Atatürks Tod als Staatspräsident. Doch bis heute ist Inönü lediglich als „der zweite Mann“ bekannt. Neben Atatürk verblasst sein Stern.
Entschlossen, einfach, fromm - so sehen die Anhänger Erdogan
Mag Erdogan noch so viele politische Gegner und Journalisten einsperren lassen und sein Handeln längst despotische Züge tragen. Mag er noch so wüste Drohungen und Nazi-Vergleiche gegenüber Deutschland aussprechen und andere Staatenlenker brüsk vor den Kopf stoßen. Aus Sicht seiner Anhänger verbinden sich bei ihm mehrere Faktoren zum Bild eines tatkräftigen Politikers und Visionärs.
Zu den unbestreitbaren politischen Fähigkeiten des früheren Istanbuler Bürgermeisters gehört seine Opferbereitschaft – er verbrachte einige Monate im Gefängnis, nachdem ihm eine Rede als Volksverhetzung ausgelegt worden war – sowie seine Unerschrockenheit angesichts von Putschversuchen und Verbotsverfahren. Zudem hat sich Erdogan auch als Staatspräsident das Image eines einfachen und frommen Mannes aus dem Volk bewahrt.
In zwei Jahren stehen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen an, mit denen die Einführung des von Erdogan auf den Weg gebrachten Präsidialsystems abgeschlossen werden soll. Dieser hat ambitionierte Ziele vorgegeben: „50 Prozent plus 1“ Stimme, und zwar sowohl für sich selbst als auch für seine Regierungspartei AKP. Ein Selbstläufer wird das nicht: Die Zustimmungswerte des Präsidenten lagen Ende Oktober nach einer Befragung des Instituts Metropoll bei 46,3 Prozent – der schlechteste Wert seit dem Putschversuch im Sommer 2016.
Allerdings: Diejenigen, die ihn unterstützen, tun das mitunter bedingungslos. Ein türkischer Regisseur hat den Werdegang Erdogans unlängst unter dem wenig überraschenden Filmtitel „Reis“ inszeniert. Der Streifen ist nicht das einzige Zeichen für die „Anführer“-Verehrung, die immer weiter wächst. Manche Hardliner bekennen offen ihre Bereitschaft, auf Erdogans Befehl hin politische Gegner zu töten. Ein Berater sagte im Fernsehen, er trage eine Pistole bei sich, um den Präsidenten immer und überall verteidigen zu können.
Anhänger in der Türkei nennen ihre Drillinge Recep, Tayyip und Erdogan
Und es geht noch weiter. In Anatolien haben mehrere Anhänger ihren neugeborenen Drillingen die Namen Recep, Tayyip und Erdogan gegeben. Ein regierungsnaher Theologe erklärte, Widerstand gegen Erdogan sei unislamisch. Eine „Recep Tayyip Erdogan“-Universität gibt es schon, diverse „Recep Tayyip Erdogan“-Straßen wurden ebenfalls eingeweiht. Auch einige Denkmäler mit dem Konterfei des Präsidenten wurden enthüllt.
Erdogan sagt immer wieder, er möge diese Art von Sympathiebekundungen nicht. Doch er tut wenig, um Lobhudelei und Personenkult entgegenzuwirken. Selbst die Mitglieder seiner Familie, die anders als er keine Wahlämter bekleiden, werden in der Türkei wie Staatsoberhäupter behandelt. Anklänge an eine Herrscher-Dynastie der Erdogans ergeben sich auch aus der steilen Karriere von Erdogans Schwiegersohn Berat Albayrak, dem türkischen Energieminister, der schon jetzt als möglicher Nachfolger des Präsidenten gehandelt wird.
Kritiker sagen, dass die Entwicklung für Erdogan selbst und das Land nicht unbedingt vorteilhaft ist. So wird dem Präsidenten vorgeworfen, sich nur noch mit Ja-Sagern zu umgeben, die ihn vor unangenehmen Nachrichten abschirmen. In den Anfangsjahren der 2001 gegründeten AKP war Erdogan zweifellos der Chef. Doch er teilte sich die Macht mit wichtigen Mitstreitern wie dem späteren Staatspräsidenten Abdullah Gül und dem langjährigen Parlamentspräsidenten Bülent Arinc. Inzwischen ist die AKP zu einem reinen Erdogan-Wahlverein geworden, in dem nur noch eine Meinung gilt.
Im Laufe der Jahre hat sich Erdogan daran gewöhnt, dass seine Worte auch bei Angelegenheiten Gewicht haben, die ihn eigentlich nichts angehen. Während seiner Zeit als Ministerpräsident bezeichnete er ein Friedens-Denkmal in der nordostanatolischen Stadt Kars öffentlich als „monströs“. Prompt wurde das Kunstwerk abgerissen.
Wenn er im Fernsehen auftritt, wird Widerspruch nicht geduldet. Als er im vergangenen Jahr ein Interview im Staatssender TRT gab und länger plaudern wollte, als es die Sendezeit vorgesehen hatte, warnte der Staatschef die Moderatorin, er sei noch nicht fertig. Flugs wurde die nachfolgende Sendung verschoben, um dem „Anführer“ Gelegenheit zu geben, der Nation seine Gedanken in angemessener Präzision darlegen zu können.
Inzwischen ist Erdogan so sicher, bei vielen Entwicklungen im Mittelpunkt zu stehen, dass er auch seinen Politiker-Kollegen im westlichen Ausland unterstellt, sich ständig Gedanken um den türkischen Staatschef zu machen. Im August sagte er mit Blick auf den jüngsten Streit zwischen der Türkei und Deutschland, im Bundestagswahlkampf gehe es „von morgens bis abends“ nur um die Türkei und um Erdogan.
Lobeshymne für Erdogan vom Modeschöpfer
Falls der Staatspräsident einen Sinn für die unfreiwillige Komik seines Starkultes hat, dann lässt er es sich nicht anmerken. Bereits seit längerem trägt er hin und wieder ein kariertes Sakko, insbesondere bei informellen Anlässen. Lange Zeit wurde dies kaum beachtet. Doch in jüngster Zeit fallen immer mehr türkische Regierungspolitiker mit ähnlichen Sakkos auf. Vor allem Minister und Berater, die auf einen Karrieresprung hofften, entdeckten ihren plötzlichen Hang zu karierten Jacketts, heißt es in den Medien.
Und es kommt noch besser. „Präsident Erdogan ist der Mann, der das karierte Jackett in Mode gebracht hat“, sagt der Modeschöpfer Levon Kordonciyan der amtlichen Nachrichtenagentur Anadolu. Der Präsident habe einen besseren Geschmack als viele andere internationale Spitzenpolitiker, flötet wiederum ein Textilhersteller.
Eine ähnliche Vorbildfunktion hat Erdogans kurz rasierter Schnurrbart. Selbst gestandene Politiker, die ihre ganze Karriere mit glatt rasiertem Gesicht durchliefen, lassen plötzlich die Oberlippenbehaarung sprießen. Außenminister Mevlüt Cavusoglu, Vizepremier Bekir Bozdag und Verteidigungsminister Fikri Isik sind prominente Vertreter der neuen Schnauzer-Mode. Rhetorisch setzt Erdogan, einer der besten Redner der Türkei, ebenfalls Zeichen. Ein häufig von ihm verwendeter Dreisatz – etwa: „Das habe ich immer getan, das tue ich heute, und das werde ich auch künftig tun“ – wird inzwischen von anderen Politikern übernommen.
Völlig grenzenlos ist der Erdogan-Kult allerdings noch nicht. Der Film „Reis“ floppte. Beim Verfassungsreferendum im April votierte fast jeder zweite Wähler gegen den Plan Erdogans zur Einrichtung eines Präsidialsystems mit ihm selbst an der Spitze. Und als sich der Präsident des Verfassungsgerichts, Zühtü Arslan, in Untertanen-Manier vor Erdogan verbeugte, brach eine Welle der Kritik an dem Richter los. Selbst in Erdogans Türkei soll die Justiz zumindest offiziell unabhängig von der Regierung sein. Arslan sprach von einer Verleumdungskampagne und Manipulation des entsprechenden Fotos von seiner Begegnung mit Erdogan. Er verneige sich nur vor Gott und vor keiner anderen Macht, betonte Arslan.
Warum allerdings das angeblich so manipulierte Diener-Foto von der amtlichen Agentur Anadolu verbreitet wurde, konnte er nicht erklären. mit dpa
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