Er war der letzte seiner Art, der letzte in einer Reihe großer Politiker, die den Untergang der Nazi-Diktatur und den Aufbruch Deutschlands in eine neue Zeit miterlebt und mitgestaltet haben. Er war, obwohl in Göttingen geboren, neben dem früheren Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner der bedeutendste bayerische Sozialdemokrat der jungen Bundesrepublik. Und er war bis zuletzt das lebende Gewissen seiner Partei, eine moralische Instanz, ein Bollwerk zur Verteidigung all jener Werte, die ein Gemeinwesen erst lebenswert und menschlich machen: Frieden, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit. Nun ist Hans-Jochen Vogel im Alter von 94 Jahren in München gestorben.
Zehn hochkarätige Redner hatte die SPD im Februar 2016 aufgeboten, um ihm in seiner alten Heimat, dem Münchner Rathaus, zu seinem 90. Geburtstag zu gratulieren. Dennoch war den Gästen klar: Es hätte noch viel mehr gesagt werden können über den Mann, der sich nach seiner überaus erfolgreichen Zeit als Münchner Oberbürgermeister (1960 - 1972) vor keiner Aufgabe und keinem Amt gedrückt hat, um der (sozial-)demokratischen Sache zu dienen. Was ihn dabei von Anfang bis Ende angetrieben hat, fasste er selbst einmal in einem recht aufschlussreichen Satz zusammen: "Ich bin Sozialdemokrat, der ein Stück Vision mit der ziemlich strengen und unerbittlichen Erkenntnis übereinbringen möchte, dass Politik nicht mit Wortwolken, sondern mit solider handwerklicher Arbeit betrieben werden kann."
Ein Stück Vision? Ja, mehr wollte sich Vogel nie erlauben. Idealistischen jungen Leuten in der Partei begegnete er mit väterlicher Strenge. Radikale Linke, mit denen er es in den 60er Jahren zuhauf zu tun hatte, bekämpfte er mit schneidend scharfen Argumenten. Seine vielleicht größte Vision ging in Erfüllung: Die Olympischen Spiele 1972 nach München zu holen. Das löste damals – anders als heute – noch nahezu uneingeschränkte Begeisterung aus und brachte München einen gewaltigen Wachstums- und Popularitätsschub.
Hans-Jochen Vogel: Ein Realist durch und durch
Unerbittliche Erkenntnis? Der Einser-Jurist Vogel war durch und durch Realist. Er hat unter der Realität gelitten, aber er hat sie angenommen und ist damit fast so geschäftsmäßig umgegangen wie Richter und Staatsanwälte mit schweren Straftaten umgehen. Als Anfang der 70er Jahre Linke und Jusos in der Münchner SPD gegen den aus ihrer Sicht recht selbstherrlich gewordenen Oberbürgermeister aufbegehrten, ihn als "leicht reizbare Diva" und "politisches Wunderkind" verspotteten, zog er die Konsequenz und kündigte an, nicht erneut für das Amt zu kandidieren. Er tat es nicht aus Feigheit, sondern um einen weiteren Zerfall der SPD in Bayern zu verhindern. Zu den Bitterkeiten der Realität gehörte für ihn damals der lapidare Kommentar des SPD-Vorsitzenden und Bundeskanzlers Willy Brandt zu seinem Rückzug: "In Bayern geht die Uhr nicht ganz genau so wie in anderen Teilen Deutschlands. Aber das macht ja Bayern und seine Hauptstadt zum Teil so liebenswert."
Wortwolken? Vogel war selbst ein mächtiger, wortgewaltiger Redner. Doch er nutzte weder Floskeln noch Verzierungen. Er sprach gerade, klare Sätze. Als 1991 klar geworden war, dass die deutsche Wiedervereinigung den Bürgern deutlich mehr abverlangen wird, als von der Bundesregierung bis dahin zugegeben, hielt Vogel als SPD-Fraktionschef dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) entgegen: "Die solidarischen Kräfte eines Volkes, die weckt man nicht, indem man die Wahrheit verschleiert. Man weckt die Kräfte zu gemeinsamer Anstrengung, indem man die Wahrheit sagt."
Solide handwerkliche Arbeit? Dafür war Vogel bekannt, doch dafür wurde er auch als Pedant verspottet. Der Mann mit den Klarsichthüllen und dem Hang zu preußischen Tugenden war gefürchtet bei Parteifreunden, Mitarbeitern und Journalisten. Ungenauigkeiten oder Schludrigkeiten duldete er nicht, Unpünktlichkeit auch nicht. Vogel war hart zu sich selbst und zu anderen. Als junger Oberbürgermeister verweigerte er seinen Mitstreitern und Mitarbeitern im Rathaus einen Umtrunk zu seinem 40. Geburtstag. Während der Arbeitszeit? Undenkbar! Später, als Bundesminister und Chef der SPD-Bundestagsfraktion in Bonn, hat er es sich zur Gewohnheit gemacht, Besprechungen um sieben Uhr in der Früh anzusetzen. Wehe dem, der zu spät kam!
Hans-Jochen Vogel: Am Anfang stand ein steiler Aufstieg
Vordergründig betrachtet, teilt sich das politische Leben Vogels in zwei Abschnitte: seine Zeit in München und seine 22 Jahre als Bundespolitiker (1972 - 1994) in Bonn und Berlin. Doch im Rückblick kann sein politisches Wirken nach 1994 gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Doch der Reihe nach.
Am Anfang stand ein steiler Aufstieg. Vogel, seit 1950 Doktor der Rechtswissenschaften und Mitglied der SPD, arbeitete zunächst als Assessor im bayerischen Justizministerium und als Amtsgerichtsrat in Traunstein, ehe er 1958 zum Rechtsreferenten der Stadt München berufen wurde. Bereits zwei Jahre später nominierte ihn die Münchner SPD als ihren Oberbürgermeisterkandidaten. Dass er sich im ersten Anlauf mit 64,3 Prozent gegen den als "Ochsensepp" bayernweit bekannten Gründungsvorsitzenden der CSU, Josef Müller, durchsetzen konnte, galt für politische Freunde wie Gegner als sensationell. Vogel war damals 34 Jahre alt und der jüngste Oberbürgermeister einer europäischen Millionenstadt.
Vogel gewann trotz interner Kritik an seiner resoluten Amtsführung ("Karajan der Kommunalpolitik") schnell an Popularität. Bei den "Schwabinger Krawallen" 1962 bewies er viel Fingerspitzengefühl im Umgang mit den Protestierenden. Als Verkehrspolitiker setzte er Maßstäbe mit der Abkehr von der "autogerechten Stadt" und der Förderung von U- und S-Bahn. Die Münchner Bürger dankten es ihm bei seiner Wiederwahl 1966 mit dem Traumergebnis von 77,9 Prozent der Stimmen.
Seine zweite Amtszeit war geprägt von der Vorbereitung der Olympischen Spiele – Ausbau des Verkehrsnetzes, Errichtung des Olympiageländes mit Stadion, Hallen, Park und einem Dorf für die Sportler – und von der Auseinandersetzung mit der SPD-Linken. Sein Verzicht auf eine erneute OB-Kandidatur hatte zur Folge, dass Vogel nicht mehr Oberbürgermeister war, als das Olympische Feuer entzündet wurde. Als die "heiteren Spiele" mit einer blutigen Geiselnahme endeten, aber demonstrierte er, was er unter Verantwortung versteht. Er begleitete die toten und die überlebenden israelischen Sportler nach Tel Aviv.
SPD-Vorsitz: Auf Brandt folgte Vogel
Dann wechselte er als frisch gewählter SPD-Landesvorsitzender und Spitzenkandidat der Bayern-SPD in den Bundestag. Er reihte sich pflichtbewusst ein hinter den mächtigen Genossen Willy Brandt, Helmut Schmidt und Herbert Wehner. Vogel wurde 1972 Bauminister unter Kanzler Brandt, 1974 Justizminister unter Kanzler Schmidt und übernahm 1983 – als längst schon CDU/CSU und FDP regierten – von Wehner das Amt des SPD-Fraktionschefs im Bundestag. 1987 schließlich löste er Brandt als SPD-Vorsitzenden ab.
Persönlich war es ein Aufstieg. Politisch aber war es eine Zeit der Niederlagen. 1974 konnte Vogel als Spitzenkandidat der SPD bei den Landtagswahlen in Bayern einen überwältigenden CSU-Sieg nicht verhindern. Unter Parteichef Franz Josef Strauß und Ministerpräsident Alfons Goppel holte die CSU 62,1 Prozent. Im Januar 1981 ging Vogel als "Nothelfer" nach Berlin, übernahm als Quereinsteiger das Amt des Regierenden Bürgermeisters und mühte sich, die zerstrittene Berliner SPD wieder auf Kurs zu bringen. Vergeblich. Die Wahl im Juni 1981 ging verloren. Vogel musste das Amt des Regierungschefs Richard von Weizsäcker (CDU) überlassen und wurde Oppositionsführer im Berliner Abgeordnetenhaus. 1983 schließlich ließ Vogel sich in praktisch aussichtsloser Situation als SPD-Kanzlerkandidat in die Pflicht nehmen, was als "neuer Opfergang für die Partei" bewertet wurde. Helmut Kohl und die CDU waren im Aufwind und nicht zu besiegen – auch nicht von einem Mann der Mitte, dessen Bruder und enger Vertrauter Bernhard Vogel ein bedeutender CDU-Politiker war. Von 1990 an zog Vogel sich schrittweise von seinen Ämtern zurück und schied 1994 aus dem Bundestag aus.
Seinen politischen Überzeugungen und Zielen aber blieb er treu bis zuletzt – nicht einfach als "elder statesman", der in Talkshows plaudert oder besserwisserische Reden schwingt, sondern als moralische Instanz. Vogel trat, wo immer er konnte, mit der Autorität eines Zeitzeugen auf, der sein Leben unter einer verbrecherischen Diktatur begonnen, Krieg, Gefangenschaft und demokratischen Neuanfang erlebt hat, und zuletzt mit ansehen musste, wie die bösen Geister der Vergangenheit – übersteigerter Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Egoismus und Ignoranz – wieder hervorkommen.
Hans-Jochen Vogel: Solidarität mit Europa
Im Frühjahr 2017 schleppte er sich, schwer gezeichnet von der Parkinson-Krankheit, am Münchner Max-Joseph-Platz aufs Podium, um den Teilnehmern einer Pro-Europa-Demonstration seine Solidarität zu bekunden. "Europa ist für die Erhaltung des Friedens eine notwendige Voraussetzung", sagte Vogel. Er meinte ein vereintes Europa, in dem "Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Demokratie" gelebt werden. Vogel hob hervor, dass daran auch die Parteien und Politiker, die heute gerne beschimpft und als Grund für Verdrossenheit genannt werden, ihren Anteil hatten. Auch ihnen – namentlich nannte er Konrad Adenauer und Willy Brandt – müsse man dankbar sein. Und er fügte hinzu: "Und sehen Sie mir nach, wenn ich von Dankbarkeit rede und mein eigenes Leben überdenke – dann sag ich auch ein Vergelt´s Gott dem Herrgott."
Seine letzten Jahre lebte Vogel – in erster Ehe Vater von drei Kindern – mit seiner zweiten Frau Liselotte in einer Wohnung des Münchner Seniorenstifts Augustinum. Dass er dort bereits 2006 eingezogen war, obwohl er damals noch bei guter Gesundheit war, hatte für einiges Aufsehen gesorgt. Er hatte für den Schritt seine ganz eigene Begründung: Das Stift gebe ihm die Sicherheit, in Ruhe alt zu werden.
Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.