Ein Schlüsselerlebnis hat Gerd Müller in Juba, der Hauptstadt des Südsudan. Im fürchterlichsten Flüchtlingslager, das er als Bundesentwicklungsminister besucht hat, wie er sagt. Dort gibt es keine Kanalisation, keine Toiletten, die Menschen verrichten die Notdurft hinter dem Zelt. Wenn es regnet, und das tut es häufig in dieser Gegend, fließt alles, was sich draußen befindet, in die wackligen Hütten aus Ästen und Plastikfetzen.
Entwicklungsminister Müller zeigt sein Entwicklungs-Konzept für Afrika
Am Abend dann schaut der CSU-Politiker aus dem Allgäu auf einem Flachbildschirm in seiner einfachen Unterkunft mit ein paar Bewohnern des Camps das Bundesligaspiel Bayern München gegen Hertha BSC. In der Halbzeitpause: Werbung für deutsche Autos, Motorräder, tolle Reisen, Glitzer und Glamour. "Die Afrikaner um mich herum kannten die Bilder. Für mich war es ein Schock", sagt Müller.
Denn: In einem der entlegensten Winkel der Welt "wurde mir klar, dass die Menschen dort genau wissen, was wir in den reichen Ländern essen und trinken, wie unsere Wohnungen, Häuser und Straßen aussehen, unsere Autos, unsere Kleiderschränke", erzählt der 61-Jährige. Es fehlten bei den Werbeeinspielungen nur noch die Untertitel auf dem Bildschirm: "Schau, so leben wir! Warum bleibst du zurück in deiner beschränkten Welt?"
Seit fast vier Jahren ist Gerd Müller Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Vier Jahre, die ihn mehr geprägt und beeindruckt haben als all die Jahrzehnte zuvor in der Politik. Seine Begegnungen und Erlebnisse mit den Menschen in den Flüchtlingslagern im Niger oder in Kenia, mit den Näherinnen in den Textilfabriken von Bangladesch, den müllsammelnden Kindern in den Slums von Old-Delhi oder den Arbeitern auf der Elektroschrott-Müllhalde in Ghana hat der studierte Wirtschaftspädagoge jetzt in einem aufrüttelnden Buch zusammengefasst, das heute in Berlin vorgestellt wird.
Unter dem Titel "Unfair! Für eine gerechte Globalisierung" schildert Müller aber nicht nur seine Eindrücke und Erfahrungen. Er analysiert die Situation in vielen Ländern Afrikas, beschreibt die Herausforderungen für Europa – und bietet Lösungen an. Er will ein "Gesamtkonzept darstellen", wie er sagt. Fakten schaffen. Vor allem aber will er Politik, Wirtschaft und die Bevölkerung alarmieren. Dabei nimmt er sowohl die Unternehmen in die Pflicht, als auch die Länder Afrikas selbst. "Denn wir stehen an einer Weggabelung", sagt der Minister. "Wir können die erste Generation werden, die die Welt in die Apokalypse führt. Oder die erste Generation, die eine Welt ohne Hunger schafft."
Müllers Botschaft: Mehr Fairness für Entwicklungsländer
Müllers Botschaft: "Wir können die wachsende Bevölkerung satt machen". Das entsprechende Know-how ist vorhanden: Durch neues Saatgut ohne Gentechnik, das bessere Ernteerträge abwirft. Durch neue Anbaumethoden, die man den Menschen in den Hungerländern beibringen muss. Durch mehr Fairness und Gerechtigkeit. "In Afrika, dem Zukunftskontinent, ist die gleiche positive Entwicklung möglich, wie sie Asien erlebt hat", sagt Müller.
Doch in den Köpfen der Menschen müsse sich etwas bewegen. Denn die Erdbevölkerung wächst so schnell wie noch nie, täglich um 230.000 Menschen. Und jedes Jahr kommen 80 Millionen – also einmal Deutschland – dazu. Die dank der Digitalisierung sehen, wie das Leben im reichen Europa ist. Würde man allerdings unseren Konsum auf die Weltbevölkerung übertragen, bräuchten wir zwei bis drei Erden, rechnet der Minister vor.
Die Ressourcen aber sind endlich. Und während der Wohlstand der Globalisierungsgewinner wächst, lebten immer mehr Menschen in Entwicklungsländern unter unwürdigen Verhältnissen: ohne Wasser, Energie, Bildung – ohne Perspektiven. "Wenn wir es nicht schaffen, Hunger, Elend, Not, Bürgerkriege, Ungerechtigkeiten und die Diskrepanz zwischen Arm und Reich schrittweise zu überwinden, werden die Probleme zu uns kommen´", warnt Müller. Denn die Menschen würden es auf Dauer nicht hinnehmen, dass ihre Ressourcen Grundlage unseres Wohlstandes sind – und sie nichts davon haben. Nicht umsonst steht das Thema Afrika auch im Zentrum des G20-Gipfels Anfang Juli in Hamburg.
Denn schon heute sind 65 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Aber: "Die Lösung kann und wird nicht in der Aufnahme von Millionen Flüchtlingen in Europa bestehen", sagt der Entwicklungsminister.
Unfair! Für eine gerechte Globalisierung. Murmann Publishers, 192 Seiten, 19,90 Euro.