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Ende des Jahrzehnts: Im Zeichen der Raute: Wie Angela Merkel die Zehnerjahre prägte

Ende des Jahrzehnts

Im Zeichen der Raute: Wie Angela Merkel die Zehnerjahre prägte

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    Die Raute ist Angela Merkels Markenzeichen.
    Die Raute ist Angela Merkels Markenzeichen. Foto: Ulrich Wagner (Archiv)

    Ein grauer Vormittag im Dezember 2015. Angela Merkel sitzt in ihrem Büro und redet nicht lange um den heißen Brei herum: „Es ist eine Illusion, zu glauben, dass wir das Flüchtlingsproblem an der deutsch-österreichischen Grenze lösen können“, sagt sie. Auf dem Tisch stehen zwei Kannen Kaffee und ein Adventsgesteck, vorweihnachtliche Ruhe allerdings will sich bei ihr noch nicht so recht einstellen. Nicht nach diesem Herbst, in dem die Flüchtlinge zu Hunderttausenden nach Deutschland gekommen sind und das Land an die Grenzen seiner Möglichkeiten gebracht haben, wenn nicht gar darüber hinaus. Angela Merkel jedoch, eine ansonsten alles ausgleichende, alles lange abwägende Gesprächspartnerin, ist sich ihrer Sache diesmal sicher. Ganz sicher. Eine Obergrenze für die Aufnahme von Menschen, wie CSU-Chef Horst Seehofer sie bereits fordert, lehnt sie ab. „Wenn ich heute eine Grenze definiere und diese Grenze wird morgen nicht eingehalten“, sagt sie im Interview mit unserer Redaktion, „dann habe ich mein Versprechen gebrochen“.

    "Wir schaffen das" wurde zum Wendepunkt für Angela Merkel

    Migration als Chance, keine Obergrenze, das berühmte Wir-schaffen-das: Es sind Bemerkungen wie diese, die auch viele treue Anhänger der Union an ihrer Kanzlerin zweifeln lassen. Seit sie drei Monate zuvor die Tore für die in Ungarn festsitzenden Flüchtlinge geöffnet hat, ist nichts mehr, wie es einmal war in Deutschland. Wellen beispielloser Hilfsbereitschaft treffen auf eine Wand aus Unverständnis und Sorge. Übernimmt Deutschland sich da nicht? Hat die Regierung die Lage noch im Griff? Importieren wir in gut gemeinter Naivität nun Judenhass, Frauenfeindlichkeit und islamistische Gewalt? Für Angela Merkel, bis dahin die unangefochtene Nummer eins in Deutschland und EU-Europa, ist der turbulente Flüchtlingsherbst 2015 mindestens eine Zäsur, wenn nicht gar der Wendepunkt ihrer Karriere. Von da an geht es, salopp gesagt, bergab.

    Schon ihr Start in die 2010er Jahre steht unter keinem guten Stern mehr, obwohl die Kanzlerin Deutschland mit sicherer Hand durch die globale Finanzkrise geführt hat – im Inneren, wo ihre Regierung Konjunkturpakete schnürt und eine Art Staatsgarantie für alle Sparguthaben abgibt, wie im Äußeren, wo Europa ihr im Kampf um einen stabilen Euro nahezu bedingungslos folgt. Nach der Wahl im September 2009 kann Angela Merkel zwar wie gewünscht mit der erstarkten FDP als Koalitionspartner regieren – die Union aber hat mit 33,8 Prozent ihr schlechtestes Wahlergebnis seit Gründung der Bundesrepublik eingefahren. Es knirscht also im Getriebe. Bei ihrer Wiederwahl verweigern neun Abgeordnete der neuen Koalition der Frau mit der Raute die Gefolgschaft.

    Ist die Kanzlerin noch die treibende Kraft – oder nur noch eine Getriebene? Eine, die unter dem Druck der Ereignisse Entscheidungen trifft, die so gar nicht zu ihrer defensiven, fast stoischen Art passen wollen? Den Ausstieg aus der Atomenergie etwa verschiebt Schwarz-Gelb unter ihr erst weit nach hinten, um die Laufzeiten der Reaktoren nach der Katastrophe von Fukushima dann drastischer zu verkürzen als es die Grünen je vorhatten. Finanzhilfen für Griechenland schließt die Kanzlerin im Februar 2010 noch strikt aus, um wenige Monate später ein riesiges Hilfspaket über 80 Milliarden Euro zu schnüren. Multikulti erklärt die CDU-Chefin auf einem Deutschlandtag der Jungen Union noch für gescheitert, in einer turbulenten Debatte in der Bundestagsfraktion aber sagt sie irgendwann lapidar: „Ist mir egal, ob ich schuld am Zustrom der Flüchtlinge bin. Nun sind sie halt da.“

    Angela Merkel hat erstaunlich lange als Kanzlerin durchgehalten

    Es ist ein Jahrzehnt der Widersprüche für Angela Merkel, ein Jahrzehnt, an dessen Ende die vielleicht mächtigste Frau der Welt zu einer Regentin auf Abruf geschrumpft sein wird. Das liegt, zum Teil zumindest, auch an der Eigendynamik, die Politik gelegentlich entwickelt. Bei Angela Merkel allerdings kommt noch etwas anderes hinzu, ein schier unauflösliches Dilemma: In den Umfragen ist sie auch nach 14 Jahren im Amt noch immer die Politikerin, der die Deutschen am meisten zutrauen und vertrauen. Ihre Macht aber erodiert gleichzeitig immer weiter. Die Kraft zu großen Reformen oder einer mutigen Initiative für ein neues Europa ist ihrer Koalition längst ausgegangen.

    Dafür, dass sie am Anfang als eine Art Übergangskanzlerin galt, hat sie trotzdem erstaunlich lange in diesem Höllenjob durchgehalten. Eine Frau, die von sich sagt, sie könne Schlaf speichern wie ein Kamel das Wasser. Sie schläft nicht, wenn die innere Uhr es verlangt, sondern wenn Zeit dafür ist. Und Zeit ist in diesem Jahrzehnt wenig. Fukushima, die Krim-Krise, der Brexit, das belastete Verhältnis zu den USA, nachdem ein amerikanischer Nachrichtendienst das Handy der Kanzlerin abgehört hat, der Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt 2016: Verglichen damit sind die innenpolitischen Konflikte um ausbleibende Steuersenkungen, die aberkannten Doktortitel von Karl-Theodor zu Guttenberg und Annette Schavan, die spektakuläre Entlassung ihres Umweltministers Norbert Röttgen und der Dauerzoff in der GroKo gefühlte Kleinigkeiten.

    Seit März 2014 ist Angela Merkel die am längsten regierende Regierungschefin in der EU und seit wenigen Tagen auch länger im Amt als Konrad Adenauer. Nachdem Europa fast ein Jahrzehnt lang auf sie gehört hat, muss sie in der Spätphase ihrer Kanzlerschaft nun allerdings mit ansehen, wie der französische Präsident Emmanuel Macron ihr mehr und mehr den Rang abläuft.

    Das hat nicht nur, aber auch mit der Flüchtlingskrise zu tun, in der die meisten Länder restriktiver denken und handeln als die deutsche Bundesregierung. Die Kanzlerin selbst aber lässt über ihre liberale Linie nicht mit sich reden, auch auf die Gefahr hin, sich damit in Europa weiter zu isolieren: „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“

    Merkels Rücktritt von der CDU-Parteispitze war der erste Schritt in ein neues Leben

    Ihr Land allerdings folgt ihr längst nicht so bereitwillig, wie Angela Merkel sich das vielleicht wünschen mag. Nicht nur die AfD, die sich von der Anti-Euro-Partei in eine Anti-Flüchtlings-Partei verwandelt hat, wird von Wahl zu Wahl stärker. Auch in der CSU sitzt der Groll tief – artikuliert unter anderem in der denkwürdigen Bemerkung von Horst Seehofer von der Herrschaft des Unrechts in Deutschland. Seit Strauß und Kohl hat es in der Union nicht mehr so gekracht. Die Bilder vom CSU-Parteitag, als Angela Merkel wie ein getadeltes Schulkind neben dem Chefankläger Seehofer steht, sind so gesehen auch ein Stück Zeitgeschichte.

    Erst unter den neuen Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer und Markus Söder normalisiert sich das Verhältnis der Schwesterparteien wieder. Bei der Wahl 2013 hat die Union es zwar noch einmal über die 40-Prozent-Marke geschafft, seitdem aber hat sich die Tektonik der Bundespolitik dramatisch verschoben. Die AfD ist in allen Parlamenten, die Grünen teilweise weit über 20 Prozent, die SPD im freien Fall – und mittendrin, immer noch, die Kanzlerin, die bis zum Ende der Legislaturperiode im Herbst 2021 weitermachen will als wäre nichts gewesen. Keine Flüchtlingskrise. Kein Machtwechsel an der Spitze der Union. Keine gescheiterten Jamaika-Verhandlungen. Keine GroKo am Ende ihrer Möglichkeiten. Alles ändert sich, so sieht es über Jahre aus, nur Angela Merkel bleibt.

    Nach dem Debakel der CDU bei der Hessen-Wahl im Oktober 2018 kündigt sie dann überraschend ihren Rückzug als Parteivorsitzende an. Es ist der erste Schritt auf dem langen Weg in ein neues Leben. In ein Leben ohne Politik.

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