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Foto: Frank Rumpenhorst, dpa
Foto: Frank Rumpenhorst, dpa

Viele Leute wollen sich nach so langer Zeit der Corona-Maßnahmen nicht mehr einschränken lassen.

Interview
23.06.2021

Ein Psychologe über die neue Freiheit in der Corona-Pandemie

Von Simon Kaminski

Der Psychologe und Autor Simon Hahnzog erklärt, warum die Corona-Pandemie viele Menschen aggressiv macht und wieso der Sommer in diesem Jahr anders ist.

Herr Hahnzog, die Pandemie verliert an Kraft, viele Menschen hoffen angesichts der neuen Freiheiten auf eine Wiederholung der Goldenen Zwanziger Jahre. Ist das realistisch oder reines Wunschdenken angesichts der vielen Probleme?

Simon Hahnzog: Die Goldenen Zwanziger Jahre sind eine Metapher mit einprägsamen Bildern, befeuert durch die TV-Serie „Babylon Berlin“. Das ist der emotionale Zugang. Was mich gerade viel mehr interessiert, ist, dass vieles, was schon länger da war, unter den Bedingungen der Pandemie jetzt mit Wucht nach außen drängt – in der Kultur, in der Wirtschaft und der Politik.

Tatsächlich hat doch auch die Gereiztheit bei vielen Menschen stark zugenommen. Beunruhigt Sie das nicht?

Hahnzog: Nein, das beunruhigt mich nicht wirklich, weil es mich nicht überrascht hat. Die Frustrations-Aggressions–Hypothese bewahrheitet sich. Wer daran gehindert wird, sein Ziel zu erreichen, der reagiert nicht selten mit einem gesteigerten Aggressionspotenzial.

Beispiel Augsburger Maxstraße: "Viele sind überfordert und unsicher"

Sind damit eskalierende Straßenpartys mit Gewaltorgien wie in Stuttgart oder jetzt Augsburg zu erklären?

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Hahnzog: Ein wenig schon. Ich bin ja öfters in Augsburg, da ich dort Seminare an der Business School abhalte. Vor zwei Wochen war ich selber auf der Augsburger Maxstraße. Da war einerseits – auch bei mir – die Freude, dass man wieder rauskann und sich mit Freunden trifft. Gleichzeitig ist mir aber aufgefallen, dass viele Leute überfordert und unsicher sind, wie sie mit dieser Situation umgehen sollen. Nach der langen Zeit der Isolation muss man viele Sachen einfach wieder neu lernen.

Was ist mit Verschwörungstheoretikern, aggressivem Rechtspopulismus samt antisemitischen Tendenzen? Haben Sie nicht den Eindruck, dass dies alles zuletzt zugenommen hat?

Hahnzog: Absolut. Das Covid-Virus ist ein relativ schlechter Schuldiger. Man kann es nicht mit Handschellen abführen und festnehmen. Es ist einfach Pech, dass die Pandemie über uns hereinbrach. Und Pech ist für viele Menschen eine Sache, die keinen Spaß macht. Es ist schlecht für das Selbstwertgefühl. Viel lieber sucht man sich dann einen Verantwortlichen, einen Sündenbock. Das macht mehr Spaß, das tut vielen gut. Insbesondere wenn es – wie bei den Querdenker-Demonstrationen – mit einem Gruppenbildungseffekt verbunden ist. Das signalisiert: „Aha, ich bin nicht alleine mit meiner Meinung.“ Blöd nur, dass diese Einstellung kein Problem löst.

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Foto: Torsten Gauger, dpa
Foto: Torsten Gauger, dpa

Simon Hahnzog ist Psychologe und Akademischer Direktor des Kompetenzzentrums Gesunde Arbeit & Resilienz.

Erklärt das auch die allgegenwärtigen Verschwörungstheorien?

Hahnzog: Natürlich. Es gibt das Grundbedürfnis, eine aktuelle Krise einer konkreten Ursache zuzuschreiben. Wenn das nicht gelingt, sucht man einfache Erklärungen und Sündenböcke. Das führt zu Verzerrungen und völlig konstruierten Zusammenhängen. Für die einen sind die Chinesen schuld, für andere Bill Gates oder die Politiker.

Ich habe ein Interview von Ihnen gelesen, das inmitten der dritten Welle geführt wurde. Sie äußerten freudige Erwartung auf die Rückkehr von Kunst, Kultur und gesellschaftlichem Leben. Erfüllen sich diese Erwartungen für Sie gerade?

Hahnzog: Ein Stück weit ja. Freunde treffen, in einem Restaurant sitzen, das fühlt sich schon großartig an.

Also alles so wie im Sommer 2020, als die Infektionszahlen ebenfalls stark zurückgingen?

Hahnzog: Eben nicht. Damals schien eine zweite Welle weit weg, obwohl sie von allen Virologen prophezeit wurde. Der Freiheitswille war größer als die objektiv wohlbegründeten Warnungen. Jetzt ist es anders: Obwohl die Vorhersagen für die nächste Welle wegen der Impfungen längst nicht so düster sind wie 2020, ist die subjektive Angst vor der vierten Welle nun größer. Viele – auch ich – denken: „Oh Gott, wenn das noch mal passiert, fehlt mir die Kraft.“ Die Menschen sind einfach viel müder als im Sommer 2020. Das ist der Unterschied.

"Man muss wieder lernen in Kontakt zu kommen"

Wird sich der Umgang mit Verwandten oder Freunden nachhaltig ändern? Kommen Umarmungen und das Händeschütteln zurück oder werden wir körperlich distanzierter?

Hahnzog: In einer Übergangszeit wird man einiges wieder lernen müssen. In Kontakt zu kommen – körperlich und sprachlich. Ich glaube, dass das in unserer Kultur tief verwurzelte Händeschütteln wieder zurückkommen wird. Spannend finde ich die Frage, wann man sich wundern wird, dass man über Wochen nicht mehr über Corona nachgedacht hat. Ich fürchte aber, das wird noch mindestens zwei Jahre dauern. Weit einschneidender werden die Folgen für die Arbeitswelt sein.

Inwiefern?

Hahnzog: Unternehmen, die ihr Verhalten in der Pandemie verändert haben, werden einen großen Vorteil haben. Einfach zu sagen: „Okay, die Pandemie ist vorbei, wir machen alles wieder so wie vorher“, wird nicht gehen. Homeoffice wird mit all seinen Chancen und Risiken bleiben: Man hat mehr Freiheiten, aber auch mehr Verantwortung.

Für wie tiefgreifend halten Sie die psychischen Auswirkungen der Pandemie auf die Gesellschaft?

Hahnzog: Für sehr tiefgreifend. Viele Menschen sind traumatisiert. Der Blick auf vergleichbare Krisen sagt uns, dass wir mit einer verzögerten Welle von psychischen Nachwirkungen rechnen müssen. Und das bei einer chronisch schlechten psychotherapeutischen Grundversorgung in Deutschland.

Kinderärzte warnen, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene besonders stark unter der Corona-Krise gelitten haben. Glauben Sie das auch?

Hahnzog: Ich habe mich wahnsinnig darüber geärgert, dass gerade Jugendliche während der Corona-Krise als unvernünftig und negativ dargestellt wurden. Das stimmt einfach nicht, die meisten waren vernünftig und rücksichtsvoll. Viele Kinder und Jugendliche, die in einer sehr wichtigen Phase ihres Lebens zu Hause bleiben mussten, statt zu feiern und soziale Kontakte zu knüpfen, werden traumatisiert sein. Schon jetzt werden in Einrichtungen der Kinderpsychiatrie nur noch die schwersten Fälle angenommen.

Menschen wollen sich nochmal so einschränken wie 2020

Gleichzeitig scheint es viele Menschen zu geben, die die Ruhe während der Pandemie genossen haben.

Hahnzog: Ja, ich glaube, dass ziemlich viele so empfinden. Die einen haben gemerkt, dass sie im Homeoffice viel konzentrierter und selbstbestimmter arbeiten können. Andere – wie ich auch – haben geschätzt, dass man sich mehr um die Kinder kümmern konnte. Dafür habe ich ganz bewusst meinen beruflichen Ehrgeiz zurückgeschraubt und praktisch drei Monate zusätzliche Elternteilzeit genießen können. Ein Kollege, der zwei Kinder im Teenager-Alter hat, sagte ganz bewegt zu mir: „Ich habe in der Pandemie meine Söhne erst richtig kennengelernt.“ Aber das sind meist die leiseren Stimmen.

Schon heißt es, die vierte Welle sei wegen der Delta-Mutante gar nicht zu vermeiden und eine Herdenimmunität durch die aufkommenden Mutanten nicht erreichbar. Was würde ein weiterer schwerer Rückfall für unsere Psyche bedeuten?

Hahnzog: Das wird schwierig, weil die Leute erschöpft und verunsichert sind – und zwar viel mehr als Ende des Sommers 2020. Ich kann mir vorstellen, dass die Bereitschaft der Menschen, sich noch einmal einzuschränken, gering sein wird.

Was könnte helfen?

Hahnzog: Das Bewusstsein, dass man selber ganz für sich gestalten kann, wie man persönlich mit der Situation umgeht – wie man leben, lieben und arbeiten will.

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