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Editorial: Warum uns Europa eine Reise wert war

Editorial

Warum uns Europa eine Reise wert war

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    Mit dem Interrail-Ticket quer durch Europa
    Mit dem Interrail-Ticket quer durch Europa Foto: Elisa Glöckner

    Es gibt Wahlen, die treiben den Blutdruck von uns Journalisten zuverlässig hoch. US-Präsidentschaftswahlen gehören dazu, von denen wir oft genauer als jeder Amerikaner wissen, wie viele Superdelegierte welcher Kandidat gerade dringend in Florida benötigt. Bundestagswahlen ebenfalls, gerade wenn es um Kanzlerinnendämmerungen geht. Bayerische Landtagswahlen auch, vor allem, wenn es mit einem Mal aussieht, als habe die CSU kein zwingendes Monopol mehr auf die ganz große Mehrheit.

    Jede Menge Aufregung, Vorfreude, Wahl-Wahnwitz also. Und dann gibt es, alle fünf Jahre: die Europawahl. Wir müssen dazu im Vorfeld noch etwas Besonderes machen, heißt es dann im Vorfeld, und das Wort „müssen“ wird dabei ganz besonders betont. An dieser Stelle, an diesem Tag, an dem unsere große Europa-Reportage als Beilage in der Tageszeitung und als digitaler Reisebericht erschienen ist, muss daher die Frage erlaubt sein: Weshalb bloß ist Europa für viele von uns ein eher abstraktes Gebilde geblieben? Weshalb muss man so viel darüber reden und schreiben, wie wichtig es sei, statt dies einfach zu spüren?

    Klar, manche Gründe liegen auf der Hand. Die Europäische Union wirkt auf viele fern und kalt, weil sich mit ihr keine Symbole, keine Emotionen verbinden. Wer „Europa“-Gebäude in Brüssel sucht, findet höchstens Zweckbauten. Und wer „Brüssel“ mit einem Gesicht verbinden will, landete in den vergangenen Jahren beim doch recht müden Lächeln von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Sogar Papst Franziskus sagte, Europa erinnere ihn an eine Oma, so alt und verbraucht. Aber die Gründe für unsere Zurückhaltung liegen tiefer.

    Die Titelseite der Augsburger Allgemeinen heute am 13. Mai.
    Die Titelseite der Augsburger Allgemeinen heute am 13. Mai. Foto: AZ

    Wir haben uns von Europa auch entfremdet, weil so vieles selbstverständlich geworden ist. Wir telefonieren ohne Zögern gar im Ausland, weil es keine Roaming-Gebühren mehr gibt, aber dass wir das auch europäischen Regulierern zu verdanken haben, daran denken wir nicht mehr. Wir überqueren Grenzen, ohne auch nur nach unserem Pass zu kramen. Wir würden kichern, wenn wir das Wort „Wechselstube“ in einem Euro-Mitgliedsland läsen, und marschieren zum nächsten Geldautomaten, der – oft gebührenfrei – die gleichen Scheine ausspuckt wie daheim. Und wir tun dies unbekümmert in Ländern, in denen unsere Vorfahren sich gegenseitig buchstäblich den Schädel eingeschlagen haben.

    Ein Reise zu den Menschen Europas

    Daran können wir uns aber gar nicht mehr erinnern, denn wir leben in Europa in der längsten Friedensperiode aller Zeiten, in Wohlstand noch dazu – ein Kontinent mit gerade mal sieben Prozent der Weltbevölkerung vereint auf sich rund ein Drittel des Welthandels und etwa die Hälfte aller Sozialleistungen. Aber da sind wir schon wieder mittendrin in der Aufzählung von Erfolgen, die wir doch vermeiden wollten.

    Und weil diese, glauben wir zumindest, auch niemand mehr lesen mag, haben wir uns in dieser Beilage für Sie auf eine europäische Reise begeben. Genauer gesagt: Wir haben vier junge Kolleginnen und Kollegen, Volontäre unserer Günter-Holland-Journalistenschule, auf eine Reise geschickt – quer über diesen Kontinent. Sie sind in den Süden gereist, in den Norden auch, sie sind von Westen nach Osten gefahren und wieder zurück. Sie hatten keine feste Reiseroute, sie hatten nur einen klaren Auftrag: zu reden, zu sprechen, Menschen begegnen, Europäern! Um Europa im Alltag zu erleben und so vielleicht einen Eindruck zu bekommen, was diesen Kontinent irgendwie doch im Innersten zusammenhält.

    Das war manchmal so chaotisch, wie Europa nun einmal ist (eine unserer jungen Reisenden wurde gleich beim Aussteigen aus dem Zug an ihrer ersten Station erst einmal ausgeraubt), aber nach vielen Wochen ist aus unserer Sicht so ein echter Reisebericht entstanden – darüber wie vielschichtig Europa ist, wie bunt, zugleich aber auch so gefährdet, so fragil.

    Europa muss uns eine Stimme wert sein

    Jeden Tag führt uns ja der rasante Aufstieg Chinas, immer neuer Trump-Furor oder Putin-Drohungen neu vor, wie klein wir uns mitunter fühlen müssen: Schon 2050 wird kein europäisches Land mehr der G7 angehören, wir drohen ein verzwergter – zudem überalterter – Kontinent zu werden. Viele Herausforderungen der Zukunft lassen sich weder lokal, regional noch national schultern, nur europäisch.

    Die EU kann Großes schaffen. Über diese Erfolge muss man immer wieder reden, gewiss. Aber wir brauchen Europa auch in den Herzen – sonst überlassen wir Europa den Populisten und Vereinfachern, die mit ganzem Herzen „dagegen“ sind.

    Dafür müssen wir aber Europas Gretchenfrage beantworten: Wollen wir miteinander vorangehen oder aneinander verzweifeln? Ein Tipp: Fragen Sie dazu einen jener Briten, die für den Brexit gestimmt haben und realisieren mussten, wie teuer dieser wird, buchstäblich. Vielleicht ist Europa erst so richtig wertvoll, wenn es nicht mehr da ist.

    Deswegen kann es keine Ausrede geben. Europa muss uns am 26. Mai eine Stimme wert sein. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Spaß mit unserer (Lese-)Reise durch Europa.

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